Aus der Wörtersammlung: schrift

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herzschlag

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2.18 — Von Zeit zu Zeit, wenn ich in einem bota­ni­schen Gar­ten sit­ze bei­spiels­wei­se, wenn ich mir wün­sche, eine der chi­ne­si­schen Nach­ti­gal­len möge von den Bäu­men her­un­ter­kom­men und sich zu mir set­zen, hal­te ich die Luft so gründ­lich an, dass ich zu einer laut­lo­sen Erschei­nung wer­de unter scheu­en Vögeln. – Stun­den des Arbei­tens, des War­tens. — Das kaum noch wahr­nehm­ba­re Brau­sen einer Stadt jen­seits der Bäu­me, jen­seits der Mau­ern. – Trop­fen­des Was­ser. — Mei­ne Hän­de, die die Tas­ta­tur der Notier­ma­schi­ne so behut­sam berüh­ren, als wür­den sie Amei­sen­rü­cken beschrif­ten. — Weit nach Mit­ter­nacht. Es ist so still, dass ich glau­be, von fern mei­nen Herz­schlag zu hören. — stop

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ilse aichinger

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5.38 — Es soll jetzt Ton­fil­me geben. — Das war ein rät­sel­haf­ter Satz. Und es war einer von den ganz weni­gen rät­sel­haf­ten Sät­zen der Erwach­se­nen, die mich nicht los­lie­ßen. Eini­ge Jah­re spä­ter, ich ging schon zur Schu­le, sag­te die jüngs­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, wenn wir an den Sonn­ta­gen zu mei­ner Groß­mutter gin­gen, bei der sie leb­te, fast regel­mä­ßig am spä­ten Nach­mit­tag: > Ich glaub, ich geh jetzt ins Kino. < Sie war Pia­nis­tin, unter­rich­te­te für kur­ze Zeit an der Musik­aka­de­mie in Wien und übte lang und lei­den­schaft­lich, aber sie unter­brach alles, um in ihr Kino zu gehn. Ihr Kino war das Fasan­ki­no. Es war fast immer das Fasan­ki­no, in das sie ging. Sie kam frös­telnd nach Hau­se und erklär­te meis­tens, es hät­te gezo­gen und man kön­ne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasan­ki­no nicht, und sie hol­te sich dort nicht den Tod. Den hol­te sie sich, und der hol­te sie gemein­sam mit mei­ner Groß­mutter im Ver­nich­tungs­la­ger Minsk, in das sie depor­tiert wur­den. Es wäre bes­ser gewe­sen, sie hät­te ihn sich im Fasan­ki­no geholt, denn sie lieb­te es. Aber man hat kei­ne Wahl, was ich nicht nur bezüg­lich des Todes, son­dern auch bezüg­lich der Aus­wahl der Fil­me zuwei­len bedaue­re, wenn mei­ne liebs­ten Fil­me plötz­lich aus den Kino­pro­gram­men ver­schwin­den. Obwohl ich es ger­ne wäre, bin ich lei­der kei­ne Cine­as­tin, son­dern gehe sechs oder sie­ben­mal in den­sel­ben Film, wenn in die­sem Film Schnee fällt oder wenn die Land­schaf­ten von Eng­land oder Neu­eng­land auf­tau­chen oder die von Frank­reich, denen ich fast eben­so zuge­neigt bin. Ilse Aichin­ger : Mitschrift

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kinderwelten

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9.55 — Ich hat­te ein Kin­der­buch, das ich zufäl­lig in einer Kis­te ent­deck­te, vor mir auf den Schreib­tisch gelegt, illus­trier­te Erzäh­lun­gen aus Tau­send und einer Nacht. Ich konn­te mich an bei­na­he jedes Detail der Zeich­nun­gen, die sich in dem Buch befan­den, erin­nern, das heißt, ich erkann­te die Zeich­nun­gen wie­der, auch den Geruch des Papiers, einen Tin­ten­fleck, mei­ne kind­li­che Schrift, die eine der Erzäh­lun­gen kom­men­tier­te. Heu­te, ange­sichts zwei­er Buben, — sie kämpf­ten in einer U‑Bahn mit­tels hand­li­cher Kon­so­len ver­bis­sen gegen­ein­an­der -, die Vor­stel­lung, wie in Zukunft uralte Men­schen nicht Büchern, son­dern ihren Spiel­zeug­ma­schi­nen aus Kin­der­ta­gen begeg­nen, vir­tu­el­len Wel­ten von unge­heu­rer Rechen­leis­tung. — stop

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vilem flusser

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16.18 — Ein­mal, vor lan­ger Zeit, habe ich mir vor­ge­nom­men, zwei oder drei Bücher aus­wen­dig zu ler­nen, Wort für Wort. Sagen wir für Tage, da die Son­ne nicht auf­ge­hen will und der Strom aus­fällt. Oder um einen Men­schen, der viel­leicht trau­rig und müde gewor­den ist, begeis­tern zu kön­nen. Fan­gen wir also an. Vilem Flus­ser. Die Ges­te des Schrei­bens: ES HANDELT SICH DARUM, ein Mate­ri­al auf eine Ober­flä­che zu brin­gen ( zum Bei­spiel Krei­de auf eine schwar­ze Tafel ), um For­men zu kon­stru­ie­ren ( zum Bei­spiel Buch­sta­ben ). Also anschei­nend um eine kon­struk­ti­ve Ges­te: Kon­struk­ti­on = Ver­bin­dung unter­schied­li­cher Struk­tu­ren ( zum Bei­spiel Krei­de und Tafel ), um eine neue Struk­tur zu for­men ( Buch­sta­ben ). Doch das ist ein Irr­tum. Schrei­ben heißt nicht, Mate­ri­al auf eine Ober­flä­che zu brin­gen, son­dern an einer Ober­flä­che zu krat­zen, und das grie­chi­sche Wort — graphein — beweist das. Der Schein trügt in die­sem Fall. Vor eini­gen tau­send Jah­ren hat man damit begon­nen, die Ober­flä­chen meso­po­ta­mi­scher Zie­gel mit zuge­spitz­ten Stä­ben ein­zu­rit­zen, und das ist der Tra­di­ti­on zufol­ge der Ursprung der Schrift. Es ging dar­um, Löcher zu machen, die Ober­flä­che zu durch­drin­gen, und das ist immer noch der Fall. Schrei­ben heißt immer noch, Inskrip­tio­nen zu machen. Es han­delt sich nicht um eine kon­struk­ti­ve, son­dern um eine ein­drin­gen­de, ein­dring­li­che Ges­te. — stop
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