Aus der Wörtersammlung: brüder

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asmara tigri

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lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschich­te erzäh­len wird, scheint müde zu sein. Immer wie­der fal­len für Sekun­den ihre Augen zu. Frü­her Mor­gen, Tigri hat die Nacht über gear­bei­tet. Wir sit­zen in einem Schnell­zug vom Flug­ha­fen in die Stadt. Gera­de woll­te sie noch wis­sen, war­um ich auf dem Note­book einen Film betrach­te, der von ein­stür­zen­den Tür­men des World Trade Cen­ters berich­tet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stun­den lang Brie­fe sor­tiert, das heißt, Luft­post­brie­fe für Inseln, die im pazi­fi­schen Oze­an lie­gen, weil sie eine Spe­zia­lis­tin für Inseln ist, auch für Inseln atlan­ti­scher Gebie­te, aber vor allem ken­ne sie sich aus mit Inseln, die Kiri­ba­ti hei­ßen oder Ton­ga oder Palau oder Vanua­tu. Sie sagt, dass sie die­se Namen lie­ben wür­de, dass sie Anfang der 70er Jah­re in einem Dorf nahe der eri­tre­ischen Haupt­stadt Asma­ra gebo­ren wor­den sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wie­der auf­ge­baut wer­den muss­te, weil an einem Sonn­tag­abend ein MIG-Flug­zeug das Dorf zer­stört habe und vie­le ihrer Freun­de getö­tet. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te Tigri bereits in West­deutsch­land. Wenn sie den Namen ihres Dor­fes aus­spricht, bin ich nicht im Stan­de, das schö­ne Geräusch in mei­nem Kopf zu behal­ten, aber das Wort Asma­ra kann ich mir mer­ken. Sobald ich das Wort Asma­ra for­mu­lie­re, leuch­ten ihre Augen, also sage ich drei­mal Asma­ra und freue mich über die Wirk­sam­keit die­ses Wor­tes. Asma­ra soll eine Stadt hel­len Lich­tes sein, sage ich, es soll dort immer­zu nach Kaf­fee duf­ten, und Tigri lacht und ich den­ke, dass das jetzt ent­we­der so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jeden­falls das Hel­le mag und auch den Kaf­fee­duft. Man spre­che Tig­ri­gna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemer­ke, dass ihr gan­zer Name selbst in die­sem Wort ent­hal­ten sei. Wie­der lacht die jun­ge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bru­der, ein Gynä­ko­lo­ge, aus den Diens­ten eines Kran­ken­hau­ses ent­las­sen wur­de, weil man ihn nicht als das behan­deln woll­te, was er zu sein wünsch­te. Mein Bru­der, wis­sen Sie, möch­te ein König sein. Nun ist er arbeits­los und König. Er ist natür­lich schwarz wie ich, genau so schwarz, und schwarz steht den Köni­gen nur in Afri­ka. Sie macht eine kur­ze Pau­se, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf die­ser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im ver­gan­ge­nen Jahr sei ihr Vater gestor­ben in Eri­trea, ein glück­li­cher Mensch, ein Bus­fah­rer, ein sehr stol­zer Herr. Im Okto­ber des sel­ben Jah­res sei schließ­lich die Mut­ter mit dem Flug­zeug via Rom nach Frank­furt gekom­men. Sie habe, ohne das zu wis­sen, einen Tumor im Kopf mit­ge­bracht, im Febru­ar war sie dann umge­fal­len und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fens­ter. Ein hei­ßer, schwü­ler Mor­gen. Ob sie den Film anse­hen dür­fe, will sie wissen.
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die alte margareta spricht vom sterben

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nord­pol : 18.15 — Nach­mit­tag. Wol­ken tief. Regen heut aus nächs­ter Nähe auf mei­nen Schirm her­ab. Auch von der Sei­te her Trop­fen, die so leicht sind, dass sie mit mei­nem Atem zurück gegen den Him­mel flie­gen. Mit Schreib­ma­schi­ne sitz ich und beob­ach­te ein hand­li­ches Kino. Dort das Gesicht einer uralten Frau. Sie heißt Mar­ga­re­ta, die Mar­ga­re­ta aus Wien. Mar­ga­re­ta ist 91 Jahr alt. Von einem bösen Krebs schwer gezeich­net, spricht sie im Ster­be­hos­piz in einer hei­te­ren Wei­se Gedan­ken in die Kame­ra, die mich berühr­ten, als ich sie zum ers­ten Mal hör­te, so dass ich mir vor­ge­nom­men hat­te, jeden ihrer Sät­ze in einer eige­nen Text­spur fest­zu­hal­ten. Heu­te nun ist Margareta’s Tag. Immer wie­der hal­te ich den Film an und notie­re Wort für Wort was Mar­ga­re­ta zum Ster­ben sagt: Ich glaub’s nicht gar so. Ich glaub’s nicht, dass man in den Him­mel kommt. Weil, mit was soll man denn? Ja, mit der See­le, nicht! Die See­le kommt in den Him­mel. Ja, aber wer ist denn die See­le? Das weiß man dann auch nicht. Ich sag das nur, weil Sie mich gefragt haben. Weiß ich nicht, wie das dann geht! Ich hab eine Cou­si­ne gehabt, die war sehr christ­lich. Wenn die nur ein­mal nicht in die Kir­che gegan­gen war, aber sie hat mir gesagt damals, sie war ein 18er Jahr­gang, ich bin ein 14er, mein Bru­der war ein 17er, und sie hat gesagt: Das glaub ich nicht, dass es nach dem Tod noch was gibt. Sie meint halt, dass wenn man stirbt, dass es dann aus ist. Ich weiß es auch nicht. Aber ich schla­fe jetzt auf die Nacht ein, und in der Früh werd ich mun­ter, das hab ich jetzt drei Mal schon gemacht, da den­ke und da träu­me ich gar nichts, so rich­tig nichts. Dann denk ich mir, siehst du, so wär das Ster­ben. Aber es ist halt so. Nein, so rich­tig weiß ich es nicht. Aber ich bin ja schon knapp davor. Mit 91 sind Sie knapp vor dem Ster­ben. Müs­sen Sie ja sein. — Mar­ga­re­ta hebt einen klei­nen Löf­fel vom Tisch. - Mein Gott, gar nichts essen möch­te ich am Liebsten.
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