1.28 — Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen hatte, auf dem Postamt würde ein Paket auf mich warten. Ich ging also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt. Und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten, nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam, dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegenstemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos. — Aber jetzt zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange Zeit auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann, war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz der Begeisterung kurz einmal eingenickt sein sollte. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und da sind zwitschernde Mädchenstimmen, und das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton. — stop
Aus der Wörtersammlung: küche
mandelbrot
3.38 — Seit einigen Tagen bereits werde ich nachts gegen 1 Uhr müde. Nicht einfach müde in einer Weise, dass ich noch sagen könnte – Jetzt bist Du also müde, solltest einen schönen starken Kaffee trinken oder etwas schwarzen Tee mit Honig. Nein, das ist eine Müdigkeit, die aus dem Hinterhalt kommt, als Überfall oder so etwas. Vorhin erst habe ich meinen Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt, um meine Springspinne, die gerade aus ihrer Höhle gekommen war, aus der Perspektive einer weiteren Spinne betrachten zu können. Das war ein Fehler gewesen. Es ist jetzt bereits 3 Uhr 30 und ich habe noch nicht eine der drei sehr kurzen Kurzgeschichten gelesen, die ich mir zur Übung Nacht für Nacht verordnet habe. Werde nun vorsichtig in die Küche gehen. Dann etwas Carver lesen und vielleicht, wenn ich nicht wieder eingeschlafen sein werde, über das schöne Wort Mandelbrotmenge nachdenken, über die Temperaturen des Atlantischen Ozeans vor Neufundland, über schneeweiße Wale und andere wunderbare Dinge. — stop
leguan
23.10 — Meine linke Hand auf dem Tisch. Je länger ich sie betrachte, desto merkwürdiger, das heißt, erstaunlicher ihre Erscheinung. — Fünf Finger, tatsächlich. Warum? — Oder aber das Wort L E G U A N. Immer und immer wieder gelesen und laut vor mich hergesagt, verschwindet die Echse, das Wort wird zu Musik. Jetzt stehe ich auf. Ich werde die Computermaschine ausschalten und in die Küche gehen, um etwas Musik zu hören und ein paar Radieschen zu schneiden. — stop