india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen.
Aus der Wörtersammlung: merkwürdiges
ein kind
marimba : 6.16 — In der Schnellbahn vom Flughafen wieder ein merkwürdiges Kind beobachtet. Das Kind saß auf dem Schoss der Mutter, hatte einen Schnuller im Mund und betrachtete Fahrgäste, die dort in seiner nächster Nähe saßen oder standen. Alle waren sie müde, ein Langenstreckenflug von New York her über den Atlantik lag hinter ihnen, das Kind aber schien in der Luft gut geschlafen zu haben. Es hatte blitzblanke Augen von dunkelbrauner Farbe, und mit diesen Augen nun arbeitete es sich von einem Erwachsenengesicht zum nächsten. Wenn die Augen des Kindes ein Gesicht erreichten, verweilten sie eine gewisse Zeit lang, als ob sie sich das Gesicht für immer einprägen, oder aber als ob sie in dem Gesicht etwas finden wollten, nach dem gesucht werden musste. Wenn das Kind mit der Beobachtung eines Gesichts fertig geworden war, hüpften seine Augen auf das nächste Gesicht, und so weiter und so fort. Nie, ich meine, nie solange ich das Kind und seine Augen beobachtete, kehrte sein Blick zu einem Gesicht zurück, das es bereits einmal besucht hatte, so dass ich behaupten möchte, dass seine Augen, das heißt, das Gehirn des Kindes, den Waggonraum des Zuges systematisch untersuchte. Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, dass das Kind vielleicht ein uralter Mensch gewesen war, der rückwärts lebte, für den sich die Zeit umgekehrt hatte, der nun bald den Anfang seiner Existenz wieder erreichen würde, der noch einmal alles ansah, mit Kinderaugen, aber vielleicht einem uralten Gehirn. Wer aber, wenn ich dieses Gefüge weiterdenke, war diese müde Frau gewesen, auf dessen Schoss das Kind ruhte und schaute? – Weit nach Mitternacht. Habe den Verdacht, diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben. Ein déjà-vu. Werde mir sofort zur Beruhigung eine kleine Ente braten.