delta : 5.02 — Ein Brief, 12.5 Gramm schwer, den ich vor zwei Jahren als Sonde per Luftpost nach Kalkutta schickte, ist gestern zu mir zurückgekommen. Irgendwann während der vergangenen Monate muss ich ihn doch tatsächlich vergessen haben. Jetzt, da der Brief vor mir auf dem Schreibtisch liegt, erinnere ich mich präzise, dass ich ihn an ein zweistöckiges Haus in einer Straße adressierte, die sich nicht in unserer Wirklichkeit befindet. Da in Kalkutta zahlreiche straßenlose Häuser existieren sollen, stellte ich mir vor, ein Briefträger habe sich in dem Wunsch, meinen Brief erfolgreich zustellen zu können, ein Haus ausgedacht, das an einer Straße liegt, die tatsächlich existiert, oder eine Straße, die nicht existiert für ein Haus, in dem ein Mann namens Sini Shapiro lebt. Spuren, die ich auf dem Kuvert des Briefes entdeckte, erzählen von drei oder vier Versuchen, das Schriftstück an Mr. Shapiro auszuhändigen, so finden sich auf der Ansichtsseite des Briefes die Stempelmotive Adresse insuffisante (Anschrift unvollständig) sowie Pas de boîte à ce nom (Kein Namensschild), auf der Rückseite indessen unlesbare handschriftliche Zeichen, die mit Füllfeder oder Bleistift aufgetragen worden waren. Möglicherweise lagerte mein Brief zwei Jahre lang auf einem Schreibtisch in Kalkutta unter weiteren Briefen, die nicht zustellbar waren. Möglicherweise, auch das ist denkbar, wurde von Zeit zu Zeit ein postalischer Späher in die Stadt entsandt, um nachzusehen, ob das Haus oder die Straße, die kurz zuvor noch nicht existierten, nun doch zu finden waren. Kürzlich wurde dann jeder weitere Zustellungsversuch aufgegeben. Ja, das ist denkbar. Ich werde meinen weit gereisten Brief sorgfältig verwahren. Sicher ist: Mr. Sini Shapiro existiert tatsächlich. Er lebt in Manhattan in einem Haus an der Park Avenue Höhe 70. St., er liebt Brooklyn. — stop
Sammlung
namen
delta : 1.05 — Vor einigen Wochen hatte ich einen Luftpostbrief an Mr. Sini Shapiro nach Manhattan geschickt. Ich notierte ihm von einem weiteren Schreiben, das ich an ihn persönlich vor einiger Zeit nach Kalkutta (Indien) sendete. Der Brief war zurückgekommen, er trug Hinweise auf seiner Anschriftseite, die von mehrfachen vergeblichen Zustellversuchen zeugen, ein Kunstwerk, würde ich sagen, ein Dokument sorgfältiger Arbeit. Heute antwortete Mr. Shapiro. Er schrieb in einer E‑Mailnachricht, er habe sich gefreut, weil ich seinen Namen verwendete, um eine Briefsonde nach Kalkutta zu schicken. Außerdem freue er sich über meine Frage hinsichtlich bevorzugter Lektüren. Er übermittelte eine Namensliste jener Persönlichkeiten, deren Bücher Mr. Shapiro bald einmal lesen, deren Leben er bevorzugt studieren würde. — Es ist merkwürdig, ich habe nicht damit gerechnet, dass Mr. Sini Shapiro über eine E‑Mail-Adresse verfügen könnte. Es ist nun doch wahrscheinlich, dass Mr. Shapiro außerdem über eine Computerschreibmaschine verfügen wird, die der digitalen Sphäre verbunden ist. — stop