tango : 10.15 — Ich habe einen merkwürdigen Kondukteur der Subway mit Taucherbrille beobachtet. Der Mann war auf der N‑Linie von Brooklyn her kommend in die Canal Street eingefahren. Ein seltener Anblick. Sein schmaler Kopf, der aus einem der mittleren Waggons des Zuges ragte, im Fahrtwind wehendes, schlohweißes Haar, und eben seine Brille, deren Scheibe Augen und Nase unwirklich vergrößerte. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, die Taucherbrille des Mannes sei mit Wasser gefüllt. Ich wollte den Mann fotografieren, aber das Licht der Station war spärlich und der Mann schaukelte ohne Pause seinen Kopf hin und her wie ein alter, müder Elefant, vermutlich weil er sich um einen umfassenden Blick der Ereignisse auf dem Bahnsteig bemühte. Es ist nun denkbar, dass ich eine Person beobachtet habe, die fest mit dem Führerhaus des Zuges verwachsen war, denn der Mann fügte sich harmonisch in das Bild, das ich mir seit jeher von wirklichen Zugführern mache, Menschen, die auf Zugständen geboren werden, Menschen, die auf Zügen fahrend ihre Kindheit verbringen, Menschen, die letztlich ihren persönlichen Zug zur Lebzeit niemals verlassen. — stop
Aus der Wörtersammlung: ereignis
berührung
sierra : 10.01 — Ein besonderer Tag, 14. Dezember. Ich konnte heute Morgen um kurz nach 8 Uhr mein Gesicht wieder in beide Hände nehmen, ohne sofort das Gefühl zu haben, mein verletzter Ellenbogen würde unter Haut und Muskeln jeden Halt verlieren. Ein Moment freudiger Begrüßung, als ob ich nun wieder vollständig wäre durch die Entdeckung der Fähigkeit, eine bedeutende Region meines Körpers mittels beider Hände berühren zu können. Ich stelle fest: Bewegungen, die ein Leben lang selbstverständlich gewesen waren, werden zu Ereignissen. Ab sofort ist es wieder denkbar, meinen Kopf während des Lesens abzustützen, eine Geste, die zur Lektüre einerseits gehört, wie eine Tasse Kaffee, wie das Buch selbst, dessen Gegenwart ich mir andererseits hilfsweise vorstellen könnte. — stop
take the “A” train — protokollfaden
tango : 0.18 — Vor wenigen Minuten ist etwas Erstaunliches passiert. Ich habe das feine Jazzstück Take the “A” Train in der Interpretation Dave Brubecks und seines Orchesters gehört, und zwar in einem Zimmer hier in Mitteleuropa bei bester Tonqualität. Das sehr Besondere an diesem Ereignis ist gewesen, dass die Musik Dave Brubecks zunächst in einem Städtchen nahe der Stadt New York aufgelegt worden war, nämlich in den Studios eines Jazzsenders von meiner Zeit nur um Sekundenbruchteile entfernt, sodass ich gern behaupten würde, dass zu derselben Zeit, da ich siebentausend Kilometer weit entfernt westwärts die ersten Geräusche des Orchesters vernehmen konnte, Dave Brubeck im Studio von einer digitalen Tonkonserve her zu spielen begann. Unverzüglich sauste das Stück in kleine Pakete zerlegt und auf einen Protokollfaden gereiht im Datentunnel unter dem Atlantik hindurch zu mir hin, jedes einzelne Paket nur für meine Computermaschine und mich bestimmt, wo es rasend schnell zusammengesetzt und somit hörbar wurde. Das Wunder der Musik. Das Wunder ihrer Reise. Das Wunder meiner Ohren, dass sie existieren. — Kurz nach Mitternacht. Stürmischer Wind pfeift ums Haus. — stop
djuna barnes
tango : 6.38 – Mit Blitzen, die Himmel und Erde verbinden, ist das so eine Sache. Man hört sie nicht kommen. Sie sind immer Erinnerung, nie Ereignis, haarfeine Dampfluftröhren, die Erscheinung erzeugen. Unlängst, während ich im Regen spazierte, muss ich von einem Blitz dieser Art getroffen worden sein, weil ich kurz darauf auf einer Rolltreppe Djuna Barnes gesichtet habe. Sie fuhr nach unten, ich nach oben. Ein faszinierender Anblick. Da waren ein Paar heller, eleganter Schuhe, ein dunkelgrünes, verwegen geschnittenes Kleid, weiterhin ein blauer Sommerhut. Dieser Hut nun brannte lichterloh auf ihrem Kopf. Eine Art Feuer war das gewesen, das ölig rußte, und als sie nahe herangekommen war, auf gleiche Höhe ungefähr, Ruß auch auf ihrer Nase. Dann wachte ich auf und hörte noch, wie ich zu mir sagte: Es regnet. – Diese kleine Geschichte ereignete sich vor etwa einer Stunde. Gerade eben wird es hell und es regnet tatsächlich, weshalb ich im Moment nicht ganz sicher bin, wo ich mich eigentlich befinde. — stop