echo : 18.30 UTC — Samstag. Kaum auf den Beinen beschließe ich, ein Experiment zu wagen, an dem ich mich vor Jahren schon einmal versuchte. Ich wünschte, einen Gedanken genau so zu denken, als wäre dieser Gedanke der letzte meiner Gedanken. Die Beobachtung, dass sich bereits die Wahrnehmung eines letzten Gedankens in einer Zeit weit nach dem letzten Gedanken zu befinden scheint, als ob jedem Gedanken sofort ein Echo folgte. Vielleicht wird überhaupt jeder Gedanke niemals als Gedanke im Moment seiner Verfertigung, sondern immer nur in seiner Echospur für mich verfügbar sein. — Noch zu tun: Nachdenken über den Sandmann. — stop
Aus der Wörtersammlung: blues
Viktoria og Marit Ansethmoen
sierra : 6.50 — Ich beobachtete einen älteren Mann, der auf einer Fahrt von Manhattan nach Staten Island Schriftzeichen in die hölzerne Sitzbank einer Fähre gravierte. Ein kalter Wintertag, der Mann war sportlich gekleidet, rote Windjacke, Lapplandmütze, Wanderschuhe, dazu Fäustlinge, die seine kräftigen Hände schützten. Er war überhaupt von mächtiger Statur gewesen. Ich hatte die Vorstellung, dass es sich um einen Norweger oder Finnen gehandelt haben könnte. Als der Mann das Schiff betrat, folgte ich ihm, setzte mich in seiner Nähe nieder. Leichter Seegang, die Scheiben des unteren Decks waren von der Salzgischt geblendet, draußen bedeckte eine Eiskruste die Promenade der Fähre. Während der Überfahrt, da ich den alten Mann beobachtete, spielten ein paar schwarzhäutige Jungs wunderbar scheppernden Blues auf Metallgitarren. Eine Handvoll Schulkinder tollten herum. Das Horn des Schiffes grüßte in die Luft der Upper New York Bay wie immer. Da begann der alte Mann vor meinen Augen mit einem Klappmesser seine Arbeit. Er verfügte über eine schöne Schrift. Während er arbeitete, schien er keinen Blick für seine Umgebung zu haben, er machte das so wie einer, der meint, er sei nicht sichtbar, solange er fest an seine Unsichtbarkeit glaubt. Eine gute Viertelstunde schnitzte er vor sich hin. Dann packte er sein Messer in seinen Rucksack und verließ das Schiff mit allen anderen Passagieren. Kaum waren wir an Land, stellte ich mich in die Warteschlange Richtung Manhattan, um sofort wieder zurück auf dasselbe Schiff zu gelangen, mit dem ich zur Insel hin gefahren war. Nur wenige Minuten später nahm ich genau an der Stelle Platz, an der der Mann gearbeitet hatte. Auf dem Boden des Schiffes lag ein Häufchen dunkler Späne, in den Sitz eingraviert ein Name: Viktoria og Marit Ansethmoen. Dem Namen folgte eine Ziffer: No 7563. Diese Ziffer, und den dazugehörigen Namen, entdeckte ich gestern in einem Notizbuch wieder, das ich damals geführt hatte während winterlicher Fahrten auf Staten Island Fähren. Noch immer weiß ich nicht, was diese Zahl bedeuten könnte, und warum der alte Mann den Namen einer Frau in die Sitzbank des Schiffes eingetragen hatte. Heute Nacht die Vorstellung, ich könnte meinen Text in die norwegische Sprache übersetzen lassen, um ihn der digitalen Sphäre zu übergeben: Alter Manhattanmann, melden Sie sich bitte. Code: Viktoria og Marit Ansethmoen / No 7563 — stop
charles mingus
nordpol : 0.08 — Ich stelle mir eine Stadt ohne Treppen vor, eine Stadt ohne Keller, ohne Aufzüge, eine Stadt ohne Leitern, eine vollständig ebene Stadt. Die Dächer der Stadt sind von durchsichtigen Stoffen gewirkt, Licht fällt zu jeder Tageszeit in jedes ihrer Zimmer. Kaum Bäume, keine größeren Straßen, keine Automobile. In dieser Stadt wohnen 8 oder 10 oder 12 Millionen Menschen. Würde man auf einen der seltenen Bäume klettern, wäre kein Ende, kein Land jenseits der Stadt zu erkennen. Es existieren keine Pläne der Gassen, der Plätze, der Winkel, nach welchen man sich richten könnte. Alle Wege sind schmal, sind verwinkelt, sind ohne Namen. Um sich zu orientieren, wenn sie ihre vertraute Umgebung verlassen, markieren die Bewohner der Stadt ihre Wege an Wänden, die sie passieren, deshalb sind die Häuser der ebenen Stadt über und über von Zeichen bedeckt, diese nachtwärts vorgestellte Stadt ist eine beschriftete Stadt. Man richtet sich wandernd auch nach der Sonne, nach den Sternen, wer sich verläuft, ist verloren, jeder Abschied könnte der letzte sein, die Liebenden gehen immer zu zweit, es ist eine Stadt zum Verschwinden schön, die Häuser sind hell, sind von der Farbe der Kamele, das beständige Rauschen der Stimmen macht einen weichen Himmel. – Es ist drei Uhr. Ich habe wundervolles Chaos zu Gast. Charles Mingus At Carnegie Hall : C Jam Blues — stop
the late, late blues
sierra : 6.05 — Wieder der Versuch, einen Gedanken genau so zu denken, als wäre dieser Gedanke der letzte meiner Gedanken. Die Beobachtung, dass sich bereits die Wahrnehmung dieses letzten Gedankens in einer Zeit nach dem Gedanken zu befinden scheint, als ob jedem Gedanken ein Echo folgte. Vielleicht wird überhaupt jeder Gedanke niemals als Gedanke im Moment seiner Verfertigung, sondern immer nur in seiner Echospur für mich verfügbar. — Ausgezeichneter Gewitterhimmel gegen 5. Dazu Milt Jackson & John Coltrane: The Late, Late Blues. — stop