tango : 22.28 — Seit einigen Tagen denke ich, sobald ich lese, begeistert an Neurone, Synapsen, Axone, weil ich hörte, dass ich mittels Gedanken, die Anatomie meines Gehirns zu gestalten vermag. Vorhin, zum Beispiel, ich folgte der Ankunft eines Schiffes in New York im Jahre 1867, überlegte ich, was nun eigentlich geschieht in diesem Moment der Lektüre dort oben hinter meinen lesenden Augen, ob man verzeichnen könnte, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wieder aufgerufen wird, frische Fädchen gezogen werden, indem sich das Wort schrittweise mit einer unheimlichen Geschichte verbindet. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schlafend, Stunde um Stunde, Geräusche fallenden Wassers vernehme? In der vergangenen Nacht jedenfalls habe ich wieder einmal von Regenschirmtieren geträumt, sie scheinen sich fest eingeschrieben zu haben in meinen Kopf, vielleicht deshalb, weil ich sie schon einmal nachtwärts gedacht und einen kleinen Text notiert hatte, der wiederum in meinem Gehirn zu einem bleibenden Schatten geworden ist. Natürlich besuchte ich meinen Schattentext und erkannte ihn wieder. Trotzdem das Gefühl, Gedanken einer fernen Person wahrgenommen zu haben. Die Geschichte geht so: Von Regenschirmtieren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich so durch die Stadt ging, beide Hände frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und ich staunte, nie zuvor hatte ich eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, die Flughaut der Abendsegler. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnete noch immer. Jetzt sitze ich seit bald einer halben Stunde mit einer Tasse Kaffee vor meinem Schreibtisch und überlege, wie mein geträumter Regenschirm sich in der Luft halten konnte. Ob er wohl über Augen verfügte und über ein Gehirn vielleicht und wo genau mochte dieses Gehirn in der Anatomie des schwebenden Schirms sich aufgehalten haben. — stop
Aus der Wörtersammlung: ampel
loop
sierra : 0.08 — Geschichten, die sich gut begründet wiederholen, vertraut gewordene Geschichten. Diese hier, zum Beispiel, im Februar 2008 aus der Luft gefischt: Da war mir doch in den Zeiten der Vogelgrippe, bei kleineren Turbulenzen, im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegengekommen, deren Gesichtszüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Von zierlicher Gestalt trug sie einen dunklen Mantel, leichte, flache Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste, und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort für immer abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar gestürzt war. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem Mantel und Pelzstiefelchen über die Straße gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. — Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. — Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. — Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Straße. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest. — stop
que sera, sera, whatever will be, will be …
tango : 8.52 — Immer schon hab ich geträumt. Als Junge saß ich auf Bäumen, meinte, hoch auf einem Schiff zu schaukeln, bis ich bemerkte, dass die Zeit der Physikstunde bereits hinter mir lag. Dann war ich Astronaut oder Taucher, ich träumte Glühbirnen, wie man sie macht, war ein Entdecker in luftigen Räumen. Eines Tages begann ich, meine Träume aufzuzeichnen, um sie fortsetzen zu können. Nun hatte das Träumen etwas mit Erfindung zu tun, weil die geträumte Zeit und ihre Geschichten der wirklichen Welt eingeschrieben, ja einverleibt werden konnten, einer Welt auf dem Papier, wo sie sich behaupten sollten. Von diesem Moment an sammelte ich Träume, Entdeckungen, Nachtzeppeline, konnte zeigen, was ich erfand, konnte teilen mit anderen Menschen, eine spannende Aufgabe, nie ist mir seither langweilig geworden. Oft steh’ ich morgens in meinem Zimmer und schon wird geträumt, noch während ich mich wasche beginne ich meine Arbeit, suche, bin aufmerksam, lausche. Ja, ich arbeite, wenn ich lausche, wenn ich träume, ohne zu schlafen. Manchmal träume ich auf der Straße, während ich spaziere, das ist natürlich sehr gefährlich, weil ich Ampeln vergesse, weil ich mich verlaufe oder in verkehrte Straßenbahnen steige. Gestern Nachmittag beleuchtete ich einen Frosch, der die menschliche Sprache zu imitieren vermag. Zwei Stunden lang arbeitete ich, ging Einkaufen, fortwährend träumend, erfindend, kümmerte mich in der Küche um eine Entenbrust, einmal telefonierte ich, ohne je meine Gedanken an den kleinen, sprechenden Frosch aufzugeben. Ein Geschenk dieses Erzählen, diese Art und Weise zu leben, gerade in schwierigen Zeiten. — stop
bagdad
nordpol : 0.05 — In Bagdad spricht ein Reporter vor einer Fernsehkamera. Menschen, Passanten, schauen ihm über die Schulter, sie machen Victoryhandzeichen in Richtung der Kamera und lachen. Im Hintergrund kreuzt ein Cruise-Missile eine Straße. Der Flugkörper kommt von rechts und fliegt nach links, er fliegt genau in Ampelhöhe und gerade so schnell, dass er nicht zu Boden fällt. Er fliegt in einer Art und Weise, als würde er sich an Verkehrsregeln halten. Kurze Zeit später eine Detonation, kaum hörbar, aber sichtbar, eine Erschütterung des Bodens, eine Erschütterung der Luft, eine Erschütterung, die auf den Körper des Kameramannes einwirkt, die sich durch den Körper des Kameramannes fortsetzt bis zur Kamera hin und die Stabilität des Bildes beeinflusst. Auch Horizont und Himmel sind erschüttert, wie die Menschen und ihre Victoryhandzeichen. stop. Würden SIE eine 500-Pfund-Bombe nach einem Menschen werfen? — stop
coco chanel
1.18 — Einmal, in den Monaten der Vogelgrippe, kam mir bei kleineren Turbulenzen im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegen, deren Gesichtszüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Sie war von zierlicher Gestalt, trug einen dunklen Mantel, sportliche Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort — für immer — abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar gestürzt war. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem dunklen Mantel und Winterstiefeln über die Straße gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. — Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. — Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. — Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Straße. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest. — stop