Aus der Wörtersammlung: zahlenreihen

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vom warten

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hima­la­ya : 12.22 UTC — Da sind Men­schen, die in einem Kon­troll­zen­trum Bild­schir­me beob­ach­ten. Sie haben sich ver­sam­melt, gemein­sam die Lan­dung einer Mars­son­de zu erle­ben. Was gera­de geschieht, in gro­ßer Ent­fer­nung, ist der­art span­nend, dass sie alle ganz still sind. Sie ste­hen oder sit­zen und betrach­ten also Bild­schir­me, auf wel­chen nichts zu sehen ist, als Zah­len­rei­hen, die sie ver­mut­lich zu lesen in der Lage sind, als wären sie Wör­ter, wel­che eine Geschich­te erzäh­len, die in die­sem Augen­blick der Beob­ach­tung ver­mut­lich längst schon voll­endet ist. Black­out expec­ted, sagt eine Stim­me. — stop
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brief an charlie

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echo : 2.10 — Ges­tern schrieb ich an Char­lie einen Brief auf Papier. Lie­ber Char­lie, es war schön, Dich wie­der­ge­se­hen zu haben. Ich freue mich, dass Du Dich Dei­ner­seits freu­test als ich Dir erzähl­te, ich wür­de ein­mal einen klei­nen Text geschrie­ben haben, in dem Du vor­kommst. Ich habe die­sen Text gesucht und für Dich aus­ge­druckt. Ich hof­fe, er gefällt Dir. Herz­li­che Grü­ße. Dein Lou­is > An der Nacht­zeit­küs­te / 24. Febru­ar 2011 : Flug­ha­fen. Ter­mi­nal 1. Drei Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Ich sto­ße auf Char­lie, 36, Arbei­ter. Der Mann, der in Togo gebo­ren wur­de und lan­ge Zeit dort leb­te, sitzt unter schla­fen­den Rei­se­men­schen an der Nacht­zeit­küs­te. Er sieht selt­sam aus an die­ser Stel­le, ein Mann, der in sei­nem Leben noch nie mit einem Flug­zeug reis­te, statt­des­sen in Zügen, Bus­sen, Schif­fen durch den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent Rich­tung Euro­pa geflüch­tet war, ja, merk­wür­dig sieht Char­lie aus, wie er so unter schlum­mern­den Nord­ame­ri­ka­nern, Usbe­ken, Chi­le­nen, Japa­nern, Neu­see­län­dern sitzt. Er trägt Sicher­heits­schu­he, ein karier­tes Holz­fäl­ler­hemd und Hosen von kräf­ti­gem Stoff, mit Kat­zen­au­gen besetz­te dun­kel­blaue Bein­klei­der, die in jede Rich­tung reflek­tie­ren. Nein, unsicht­bar ist Char­lie, auch im Dun­keln, sicher nicht. Er macht gera­de Pau­se, trinkt Kaf­fee aus einer schrei­end gel­ben Ther­mos­kan­ne und genießt ein Stück­chen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorg­fäl­tig kaut er vor sich hin, nach­denk­lich, viel­leicht weil er sich auf ein Spiel kon­zen­triert, das er seit Jah­ren bereits an die­ser Stel­le war­tend stu­diert. Char­lie tippt Lot­to. Char­lie ist ein Meis­ter des Lot­to­spiels, Char­lie spielt mit Sys­tem. Er hat noch nie ver­lo­ren. Er hat noch nie ver­lo­ren, weil er noch nie einen wirk­li­chen Cent auf eine der Zah­len­rei­hen setz­te, die er in sei­ne Notiz­bü­cher notiert. Char­lie ist ein beob­ach­ten­der Spie­ler, Vater von fünf Kin­dern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nacht­ar­bei­ter ist. Wenn ich mich neben ihn set­ze und ihm zuse­he, wie er mit einem roten Kugel­schrei­ber Zah­len­ko­lon­nen in sei­ne Hef­te notiert, freut er sich, macht eine klei­ne Pau­se, erkun­digt sich nach mei­nem Befin­den, und schon schreibt er wei­ter, ana­ly­siert, rech­net, sucht nach einer For­mel, die sei­ne Fami­lie zu einer rei­chen Fami­lie machen wird. Ein­mal fra­ge ich Char­lie, ob er noch Brie­fe schrei­ben wür­de an sei­ne Eltern in Lomé. Ja, sagt Char­lie, jede Woche schrei­be er einen Brief an sei­ne Eltern, die am Meer leben, am Atlan­tik näm­lich. Ein ander­mal will ich wis­sen, war­um er nicht einen Com­pu­ter ein­set­zen wür­de, um viel­leicht schnel­ler fin­den zu kön­nen, was er sucht. Char­lie lacht, sieht mich an durch kräf­ti­ge Glä­ser einer Bril­le, sagt, dass er wis­se, wie bedeu­tend Com­pu­ter sei­en für die Welt, in der wir leben, sei­ne Kin­der spiel­ten mit die­sen Maschi­nen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er wei­ter. Eine ruhi­ge, kla­re Schrift. Rote Zei­chen. In die­sem Moment begrei­fe ich, dass ich einer Beschwö­rung bei­woh­ne, einem Gebet, Male­rei, einer Kom­po­si­ti­on, der “all­mäh­li­chen Ver­fer­ti­gung der Idee beim Schrei­ben”. Her­mann Bur­ger – stop

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hätt i dad i war i

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nord­pol : 5.05 — Schreib­ma­schi­nen, die nicht eigent­lich Schreib­ma­schi­nen sind, son­dern Per­so­nal­com­pu­ter, wel­che unter ande­rem als Schreib­ma­schi­nen ver­wen­det wer­den kön­nen, sind selt­sa­me Wesen. Drei die­ser Wesen woh­nen in mei­ner Nähe. Kürz­lich, wäh­rend ich schlief, wur­den über das Inter­net fri­sche Pro­gramm­ver­sio­nen in ihre Spei­cher gela­den, wes­we­gen sie sich jedem mei­ner Ver­su­che eines Zugriffs ver­wei­ger­ten an die­sem neu­en Tag, den ich mit sin­vol­ler Arbeit zu ver­brin­gen plan­te. Auf hell beleuch­te­ten Bild­schir­men war je eine Fort­schritts­an­zei­ge in Form eines dunk­len Stri­ches oder Bal­kens zu erken­nen, die sich in einer recht­ecki­gen Form beweg­te, das heißt, eben nicht beweg­te, son­dern war­tend ver­harr­te, mal rück­wärts zu lau­fen schien, dann wie­der vor­wärts, ein Oszil­lie­ren vor den Augen des War­ten­den, das ver­mut­lich Aus­druck hof­fen­der Sin­nes­täu­schung gewe­sen ist. Wer nicht mehr schrei­ben kann, oder nur noch sehr lang­sam mit der Hand, beginnt frü­her oder spä­ter zu tele­fo­nie­ren. Es waren Anwei­sun­gen, die ich hör­te, in wel­cher Rei­hen­fol­ge ich wel­che Tas­ten mei­ner Schreib­ma­schi­nen bewe­gen soll­te, um sie anzu­trei­ben. Ein Tag ver­ging, an des­sen Ende ich den Ein­druck hat­te, er habe nicht exis­tiert. Aber Spu­ren von Hand­schrift auf einem Blatt Papier, Wör­ter, Zeich­nun­gen, Zah­len­rei­hen. Ein­mal muss ich notiert haben, ohne mich dar­an erin­nern zu kön­nen: No signal, going to sleep! — stop

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minutenbild

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hima­la­ya : 3.12 — In einer Schub­la­de mei­nes Vaters ent­deck­te ich Blei­stif­te, Spit­zer, Linea­le, Rechen­schie­ber, Uhren und eine Tril­ler­pfei­fe. Zwei Kleb­stoff­tu­ben, hart wie Stein, waren nie geöff­net wor­den. In einer Schach­tel von Metall eine hand­voll Bat­te­rien. Sie gehör­ten zu einem Blut­druck­mess­ge­rät, das ich sel­ten beach­te­te, solan­ge mein Vater noch leb­te. Es war ein Gerät für alte Leu­te, schein­bar unsicht­bar für die Augen eines jun­gen Man­nes. Ich erin­ne­re mich, bei­na­he hät­te ich die­ses Minu­ten­bild ver­ges­sen, wie mein Vater vor sei­nem Schreib­tisch sitzt, die Man­schet­te des Prüf­ge­rä­tes um den lin­ken Arm gelegt. Das Geräusch einer Pum­pe ist zu hören, ein lei­ses Röh­ren. Wie mein Vater nun reg­los war­tet auf den Moment, da das Gerät die Umklam­me­rung sei­nes Armes lockern wird, ein scheu­er Blick, so stel­le ich mir vor, auf Leucht­zif­fern, deren Bedeu­tung er fürch­te­te oder über die er sich freu­te. Vor eini­gen Wochen fand ich in einem Ord­ner lan­ge Zah­len­rei­hen in Tabel­len, die der alte Mann selbst ange­fer­tigt hat­te. Sei­ne akku­ra­te Schrift, jede Zei­le ein Zeug­nis von Über­win­dung, ein Beweis, dass mein Vater sich küm­mer­te, dass er kein Flüch­ten­der gewe­sen war. — stop 

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an der nachtzeitküste

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gink­go : 6.00 – Flug­ha­fen. Ter­mi­nal 1. Drei Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Ich sto­ße auf Char­lie, 36, Arbei­ter. Der Mann, der in Togo gebo­ren wur­de und lan­ge Zeit dort gelebt hat­te, sitzt unter schla­fen­den Rei­se­men­schen an der Nacht­zeit­küs­te. Er sieht selt­sam aus an die­ser Stel­le, ein Mann, der in sei­nem Leben noch nie mit einem Flug­zeug reis­te, statt­des­sen in Zügen, Bus­sen, Schif­fen durch den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent Rich­tung Euro­pa geflüch­tet war, ja, merk­wür­dig sieht Char­lie aus, wie er so unter schlum­mern­den Nord­ame­ri­ka­nern, Usbe­ken, Chi­le­nen, Japa­nern, Neu­see­län­dern sitzt. Er trägt Sicher­heits­schu­he, ein karier­tes Holz­fäl­ler­hemd und Hosen von kräf­ti­gem Stoff, mit Kat­zen­au­gen besetz­te dun­kel­blaue Bein­klei­der, die in jede Rich­tung reflek­tie­ren. Nein, unsicht­bar ist Char­lie, auch im Dun­keln, sicher nicht. Er macht gera­de Pau­se, trinkt Kaf­fee aus einer schrei­end gel­ben Ther­mos­kan­ne und genießt ein Stück­chen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorg­fäl­tig kaut er vor sich hin, nach­denk­lich, viel­leicht weil er sich auf ein Spiel kon­zen­triert, das er seit Jah­ren bereits an die­ser Stel­le war­tend stu­diert. Char­lie tippt Lot­to. Char­lie ist ein Meis­ter des Lot­to­spiels, Char­lie spielt mit Sys­tem. Er hat noch nie ver­lo­ren. Er hat noch nie ver­lo­ren, weil er noch nie einen wirk­li­chen Cent auf eine der Zah­len­rei­hen setz­te, die er in sei­ne Notiz­bü­cher notiert. Char­lie ist ein beob­ach­ten­der Spie­ler, Vater von fünf Kin­dern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nacht­ar­bei­ter ist. Wenn ich mich neben ihn set­ze und ihm zuse­he, wie er mit einem roten Kugel­schrei­ber Zah­len­ko­lon­nen in sei­ne Hef­te notiert, freut er sich, macht eine klei­ne Pau­se, erkun­digt sich nach mei­nem Befin­den, und schon schreibt er wei­ter, ana­ly­siert, rech­net, sucht nach einer For­mel, die sei­ne Fami­lie zu einer rei­chen Fami­lie machen wird. Ein­mal fra­ge ich Char­lie, ob er noch Brie­fe schrei­ben wür­de an sei­ne Eltern in Lomé. Ja, sagt Char­lie, jede Woche schrei­be er einen Brief an sei­ne Eltern, die am Meer leben, am Atlan­tik näm­lich. Ein ander­mal will ich wis­sen, war­um er nicht einen Com­pu­ter ein­set­zen wür­de, um viel­leicht schnel­ler fin­den zu kön­nen, was er sucht. Char­lie lacht, sieht mich an durch kräf­ti­ge Glä­ser einer Bril­le, sagt, dass er wis­se, wie bedeu­tend Com­pu­ter sei­en für die Welt, in der wir leben, sei­ne Kin­der spiel­ten mit die­sen Maschi­nen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er wei­ter. Eine ruhi­ge, kla­re Schrift. Rote Zei­chen. In die­sem Moment begrei­fe ich, dass ich einer Beschwö­rung bei­woh­ne, einem Gebet, Male­rei, einer Kom­po­si­ti­on, der all­mäh­li­chen Ver­fer­ti­gung der Idee beim Schrei­ben. Her­mann Bur­ger — stop
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