india : 0.28 — Ich habe vor wenigen Minuten mittels eines Filmdokuments den Posaunisten Fred Wesley solange beobachtet, bis ich der festen Überzeugung sein konnte, die Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert, um auf ihm Musik zu machen. Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, vor einem Mikrofon verharrt. Seit Monaten habe ich den Verdacht, dass der alte Posaunist außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten vermag. Ich werde deshalb sofort, in dieser Nacht noch, eine E‑Mail verfassen und mich erkundigen, ob ich mit meiner Vermutung recht haben könnte. Sehr geehrter Mr. Wesley, so vielleicht sollte ich beginnen, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich in meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
Aus der Wörtersammlung: sozusagen
vorwinterzeit : beobachtung in der warenwelt
india: 12.05 — Ein wesentliches Merkmal, das in der Warenwelt eine verkaufende Person von einer einkaufenden Person unterscheidet, scheint die Art und Weise zu sein, mit Stoffen, zum Beispiel, mit Winterpullovern umzugehen. Die einen, jene, die hinzugetreten sind, weil sie sich, in Ahnung des Winters, einen Pullover wünschten, entfalten und verrücken, was andere, jene, die schon da gewesen sind, weil sie hier arbeiten, geordnet, das heißt, gefaltet haben und getürmt. Weil zwischen diesen sich offensichtlich entgegenwirkenden Personengruppen ein Gefälle besteht, [die einen sind zahlreich, die anderen nicht], handelt es sich sowohl bei der Faltung, als auch bei der Sortierung der Ware nach Größe, um einen sehr ernst zu nehmenden und zeitaufwendigen Vorgang. Aus diesem Grund insbesondere scheint der Zustand der faltend sortierenden Personen ein stationärer Zustand zu sein, während jene anderen entfaltenden Personen, Unordnung sozusagen im Vorüberkommen produzieren. Dieser gerade eben erwähnte Produktionsvorgang ist nun genau genommen ein Akt der Zerstörung oder aber beschleunigter Entropie. Zerstört wird, was vorausgesetzt, was erwartet ist, Übersichtlichkeit, sagen wir, Berechenbarkeit und Konzentration. Alle roten Pullover, Kaschmirwolle, liegen südlich synthetischer Modelle von blauer Farbe auf dem Auslagetisch. Weil die einen im Vorübergehen zerstören, was die anderen mit Liebe oder pflichtgemäß errichtet haben, sind letztere weder glücklich noch zufrieden, üblicherweise vielmehr von einer vorausahnenden Morgenwut oder von einem gut verständlichen Abendzorn besetzt. — stop
zeitort
lima : 7.22 — Seltsam ist an Buchstaben, dass man ihnen die Zeit nicht ansehen kann, die in ihnen steckt. Diese achtzehn Wörter und alle weiteren Wörter an dieser Stelle habe ich bereits an einem sehr viel früheren Montagabend notiert. Es ist jetzt 7 Uhr und 15 Minuten und ich bin fern meinem Schreibtisch und weiß doch, dass mein Satz sichtbar werden wird für andere Menschen in genau dieser Minute, freigelassen sozusagen, ohne in diesem Moment auch nur einen Finger bewegt zu haben. Denkbar, dass ich gerade unter einem Regenschirm spaziere. Vielleicht schlafe ich noch oder vielleicht bin ich längst über den Atlantik geflogen und habe noch keine Verbindung in öffentliche Funkräume gefunden. — stop
mantelstille
ubu : 15.07 – Vor wenigen Tagen habe ich einen Spaziergang durch die Stadt unternommen am helllichten Tag. Alles bewegte sich, auch die Straßen, Häuser, Brücken bewegten sich unter den Händen der Arbeiter und ihren hämmernden Werkzeugen. In einem Park wurden Bäume gefällt, billige Jazzmusik in Warenhäusern, Straßenfeger trieben mit Windmaschinen Blätter und Papiere vor sich her, unaufhörlicher Lärm von Ecke zu Ecke. Plötzlich, so im Gehen, versuchte ich mir Stille vorzustellen. Ich dachte, dass ich, wenn ich den Eindruck von Stille erinnern könnte, den Lärm um mich herum vergessen könnte, sozusagen Nichthören, weil das eigentliche Echogeräusch des Lärms, das schmerzt, im Kopf entsteht, ein Geräusch, das ich hoffte, mit einer Idee von Ruhe ummanteln zu können. Es gab kein Entrinnen. Ich muss das weiter üben. — stop