himalaya : 6.46 — Seit einigen Stunden sind heftige Arbeitsgeräusche, – Hämmern, Bohren, Sägen -, aus dem kleinen Raum zu vernehmen, der sich neben meinem Arbeitszimmer befindet, und Männerstimmen, die scherzen und pfeifen. Ich will das schnell erzählen, es handelt sich um einen Vorgang der Montage, weil zwei Handwerker damit beschäftigt sind, einen Eisenbahn-Reisewagon, genauer, die Abteilscheibe eines Zuges, zu verschrauben, die mir gestern Nachmittag bei äußerst schlechtem Wetter in Einzelteilen angeliefert worden waren. Ich habe keinen wirklichen Ausblick auf das, was dort im Einzelnen geschieht, aber ich kann das feine Leder der Sitze des alten Pullmanwagens bereits riechen, den ich mir wünschte, um darin jederzeit fahren und arbeiten zu können. Ein großartiges Erlebnis soll das sein, Stunde um Stunde im historischen Waggon zu sitzen und zu schauen und zu schreiben oder zu schlafen, das rhythmische Geräusch der Schwellen, sommerliche Rheinlandschaften, die auf Bildschirmfenstern vorüberziehen. Die Stimme eines Schaffners, der sich nach Fahrkarten erkundigt, sie kommt näher, der Mann grüßt durch das Fenster der Tür in meine Richtung, immer wieder wird er kommen, ohne je das Abteil zu betreten, in dem ich sitze. Kinder tollen auf den Fluren herum, jemand schreit, dass endlich Ruhe sein soll, Tanzmusik vom Nachbarabteil, Reisende vertreten sich die Beine, zeigen auf Dampferschiffe draußen auf dem Fluss, auch sie sind Bildschirmwesen, Dreißigerjahre, hervorragend gemacht. Ein Kombüsenwägelchen scheppert vorüber, ein Bahnhof, eine Uhr, es wird dunkel und plötzlich tief stehende Sonne über den wilden zornigen Bäumen, die geduckt in einer Schneelandschaft stehen, bald, in wenigen Minuten, werden wir Oslos Zentralstation erreichen. — stop
Aus der Wörtersammlung: pullmann
hurricane
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : HURRICANE
Es wird Winter, nicht wahr, liebe Daisy, liebe Violet, es wird Winter. Habe Pullover, Mäntel, Handschuhe, Hüte, Schals auf mein Bett gebreitet, alles ist jetzt geprüft, ich bin gerüstet. Nicht viel ist zu erzählen zur Zeit, vielleicht, dass ich gestern am späten Abend die Lektüre eines Romans von Ray Loriga aufgenommen habe, der von der Erfindung Manhattans handeln soll, ein angenehm leichtfüßig erzählter Text. Während ich las, erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich mit einem Matrosen der Staten Island Fähren noch im Januar führte. Er berichtete, wie er mit einem der Schiffe, es war die Andrew J. Barberi gewesen, den Hudson aufwärts fuhr, um das Schiff vor dem Hurrikan Irene in Sicherheit zu bringen. Es sei eine unheimliche Reise gewesen, Notbeleuchtung an Bord, Möwen waren mit stromaufwärts gefahren, unbewegt saßen sie auf den Handläufen der Reling, hunderte Vögel, als hätten sie das Fliegen verlernt. Ein Lotse, nicht der Kapitän, führte Kommando über das Schiff. Er selbst habe sich zum ersten Mal in seinem Leben landeinwärts von der Küste fortbewegt. Ich erinnere mich gern an diesen kleinen Mann, der in Brooklyn groß geworden war. Manchmal trug er eine blinkende Kopfbedeckung, die den Strahlenringen der Freiheitsstatue nachempfunden worden war. Heute, an diesem Abend, wird er vielleicht wieder unterwegs sein, mit seinem Schiff den Hudson aufwärts, es geht nun um Sandy, und es geht um Barack Obama. Ich frage mich, liebe Daisy, liebe Violet, wen, wenn ihr noch in heimlichen Wahlregistern verzeichnet sein solltet, würdet Ihr wählen? Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!
ps. Mr. Salter hat seine Drohung wahr gemacht. Im Hof, verpackt in mehrere Kisten, wartet das Eisenbahnabteil eines Pullmanwagens darauf ausgepackt, und in meiner Wohnung montiert zu werden. Es ist angeblich möglich, dass ich mich in das Abteil setzten und dort arbeiten könnte. Landschaften, die ich frei wählen kann, sollen an Fenstern vorüberziehen. Stimmen sind zu hören, das ist sicher, Stimmen aus Nachbarabteilen, die nicht existieren. Und die Bewegung eines wirklichen Zuges unter meinen Händen. — stop
gesendet am
28.10.2012
5.16 MEZ
2145 zeichen
MELDUNGEN / ENDE
pullmann
echo : 0.02 – Im Traum im Pullmanwagen durch eine seltsame Landschaft gereist. Ich stand an einem Fenster. Warmer Wind fuhr mir übers Gesicht, und die Luft duftete nach Zimt und blaue Frösche schwirrten wie Vögel herum. Sie waren blind, weshalb ich hören konnte, wenn sie in den Erdboden rasten oder gegen den Zug, Geräusche, für die auch in dieser frühen Mainacht noch kein angemessenes Wort in meinem Kopf existiert. Einmal fuhr der Zug an einem Fluss entlang. An den Ufern dieses Flusses standen tausende Angelruten in den Boden versenkt. Maschinen zupften die Seile der Ruten, pling : pling : pling. Sie schleuderten Fisch um Fisch an Land, auch Menschen, ganze Menschen oder Arme oder Beine von Menschen. Diese Menschen zappelten, wie die Fische zappelten, und auch die Arme und Beine zappelten im Sand und schnappten vergeblich nach Luft. — stop