delta : 10.10 — Wie lange Zeit bereits verfüge ich über Augen? Wann präzise ist die Wahrnehmung des Lichts für mich möglich geworden? — stop
Aus der Wörtersammlung: op
gehen und sitzen
nordpol : 22.15 — Habe schon viel nachgedacht und viel vergessen, während ich ging. Sobald ich spaziere, kommen Gedanken scheinbar aus der Luft. Wenn ich dann sitze auf einem Stuhl vor meiner Schreibmaschine, springen Gedanken aus den Händen, als ob jeder Finger über ein kleines Gehirn für sich verfügte. — stop
im halbschlaf
echo : 0.02 — Oder der Moment des Erwachens, ein Bild, das ich erinnern, das ich buchstabieren kann, jedes Geräusch in diesem Bild, das Licht, einen duftenden Wind oder Atem, eine Berührung, eine Stimme, einen ersten Gedanken, eine während der Nacht notierte Sorge. Aber der Moment, da ich zu schlafen beginne, ein stummer, ein weißer Ort, ein verborgenes Bild, das vorausgegangene Halbschlafbilder träumend zu verzehren scheint. — stop
kaktusauge
sierra : 0.05 — Die Beobachtung, dass ich einen Gedanken, ehe der Gedanke zu einem Ende gekommen ist, in meinem Kopf nur dann anzuhalten vermag, sobald ich den Gedanken Wort für Wort vollziehe, also bereits so langsam denke, dass ich mitzuschreiben in der Lage bin. stop. Sprießende Blüten der Kakteen, die sich Schneckenfühleraugen ähnlich verhalten. — stop
libelle
tango : 0.02 — Wie zerbrechlich unsere Leben sind. Der Hauch einer Ader, verschlossen, geborsten im Kopf, und schon ist Ende oder die Welt eine andere geworden. stop. Das Geschenk eines glücklichen, eines gelebten Tages. — stop
manhattan : eine frau verschwindet und kehrt wieder
nordpol : 7.05 — Gestern Abend folgte ich mittels der Google-Earthmaschine einer besonderen Route durch das südliche Manhattan. Ich kannte diese Strecke, war dort im Spätsommer des vergangenen Jahres auf eigenen Füßen spaziert, war Malcolm Lowry auf der Spur gewesen, seinen enger und enger werdenden Kreisen, die den Schriftsteller ein halbes Jahrhundert zuvor in das Bellevue Hospital führten, wo er sich, in höchster Not befindlich, vom Schmerzmantel des Alkohols zu befreien suchte. Immer wieder hatte ich damals jene Gegend nahe des East River aufgesucht, sodass ich eine beinahe vertraute Umgebung in digitaler Weise berührte. Gegen Mitternacht dann, ich hatte die Third Avenue gekreuzt, bog ich nach Norden ab, erreichte 30 Minuten später die 70th Straße. Da war an einer Ecke ein kleiner Laden, an den ich mich erinnerte. Versuchte ihm näherzukommen, zoomte heran, aber dann überquerte ich im Sprung die Straße mittels einer zarten Bewegung der Mouse, bewegte mich im Kreis und bemerkte in diesem Augenblick, dass eine Frau mit Hund, die gerade noch die Straße in nächster Nähe überquert hatte, verschwunden war, indem ich die Kreuzung von Osten her betrachtete. Auch war die Straße dunkler geworden, als wäre kurz zuvor Regen gefallen oder die Dämmerung des Abends eingetroffen. Um ein paar weitere Meter gedreht, war die Frau dann wieder da gewesen und ihr Hund, den Schwanz erhoben, und die Straße trocken. Eine Kreuzung, so mein Eindruck, gefalteter Zeit. Ich muss das beobachten. — stop
kalkutta
echo : 17.05 — Im Traum in Kalkutta gewesen. Spazierte unter einem Regenschirm bis zu den Hüften hin in schillerndem Wasser. Büchsen und Tüten und Schuhe dümpelten um mich herum, darunter strahlende, lachende Gesichter von Kindern, die badeten, in dem sie mit hellen Stimmen zu mir sprachen. Bald zogen sie mich mit sich fort durch enge Straßen, die hölzerne Häuser säumten. In die Wand eines dieser Häuser war ein Computerbildschirm eingelassen, darunter eine Tastatur mit Tasten je so groß wie eine ausgewachsene menschliche Hand. Die Kinder erzählten, jene gefangene Maschine sei ihre Maschine. Sie hüpften vor der Wand hin und her, in dem sie einen Text notierten, den ich nicht lesen konnte. Auch deshalb nicht lesen konnte, weil ich meine Arme und Beine beobachtete, die je in eine andere Himmelsrichtung fortgetragen wurden. Eine Selbstauflösung, die sich in Minutenfrist vollzog, als sei der Text der Kinder eine Beschwörung gewesen, die meine anatomische Gestalt sorgfältig in kleinere Teile zerlegte. Eines der Kinder nahm meinen Kopf mit sich nach Hause. Behutsam wurde ich getragen und voller Stolz herumgezeigt. Eine gespenstische Geschichte vielleicht, die sich ereignete am Montag bereits gegen 3 Uhr am Nachmittag. — stop
man on wire
nordpol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Philippe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem windigen Tag heimlich zwischen den Türmen des Worldtrade Centers gespannt worden war, mit Balancierstange in Händen auf den Rücken legt. Keine Filmaufnahmen existieren von jenem Moment aus nächster Nähe, aber Fotografien, die im Wissen des Windes und der Tiefe einen dehnenden, einen zerrenden Schmerz in meinem Körper erzeugen. Der Seiltänzer wurde festgenommen und einem Psychiater vorgeführt. stop. Schnee in Zeitlupe. stop. Ruhe. stop. Der Luftraum, in dem sich Philippe Petit bewegte, existiert weiter fort. — stop
salamander
echo : 16.22 — Das erfindende Schreiben scheint ein Vorgang des Wartens zu sein. Immer wieder fällt etwas zu mir herein, ohne dass ich sagen könnte, warum gerade dieses und warum gerade jetzt. Merkwürdige Verschiebungen der Sprache in der Nähe anatomischer Arbeit, indem ich, beispielsweise, von innerer Schönheit spreche. stop. Nachmittag. stop. Leichter Schneefall. — stop
sekundenjahre
sierra : 6.55 — Verlorene Namen aus heiterem Himmel. Stunden beunruhigender Nachrichtentelefone. Weiche, kühle Pulse, als sei Schnee auf Seele gefallen. — stop