romeo : 15.08 UTC — Ich könnte vielleicht sagen, dass sich mein Gehirn mittels feiner Muskeln, die meine Augen umringen, selbst zu berühren vermag. Ich könnte weiterhin sagen, dass ich, sobald ich eine Fotografie betrachte, mit meinen Augen mein Gehirn bewege und in meinem Gehirn eine Welt: Das sind meine Augen vor langer Zeit, meine Augen als Kind. Noch immer kann ich sie sehen. Wenn ich sage: meine schlafenden Augen, spreche ich von Augen, die ICH nie gesehen habe. — stop
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Aus der Wörtersammlung: op
libellengeschichte
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echo : 1.28 — Heut Nacht sitz ich zum fünften Male im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich vor einigen Jahren einmal gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte vom Tee, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Ich dachte, vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte Geschmack gefunden an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich in zahlreichen Nächte seither je einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um kurz darauf das Licht zu löschen. Dann warten und lauschen. Auch jetzt höre ich seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop

nahe granada
faltergeschichte
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sierra : 0.55 — Ein Nachtfalter segelte durch mein Arbeitszimmer, als sei er eine Erinnerung. Das Tier war so müde und so schwach, dass es sich der Luft anvertraute. Kurz darauf saß der Falter auf dem Boden und ich hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. — Es ist jetzt bald 1 Stunde nach Mitternacht. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ich werde den Falter füttern, werde ihn mittels Zuckerwasser über den Winter bringen. Er könnte vielleicht 250 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der bei mir zu Kräften kommen möchte. — stop

gedankenechse
alpha : 0.25 — Seit Jahren tatsächlich, und mit Vergnügen, beobachte ich einen Gedanken, der sich nicht bewegt, kein Buchstabenzeichen des Gedankens rührt sich von der Stelle. Manchmal denke ich, der Gedanke bewegt sich heimlich, während ich andere Gedanken denke. — stop

erste fotografie
tango : 15.00 UTC — Ich habe sie heute wiederentdeckt in einer Schachtel, die ich unter meinem Sofa versteckte, eine Fotografie, die zeigt, wie ich kurz nach meiner Geburt ausgesehen habe. Ich war schon geputzt, aber noch immer zerfurcht vom langen Warten unter Wasser. Vor vielen Jahren, als ich mich an diese erste Fotografie meines Lebens erinnert hatte, war mir bewusst geworden, dass eines Tages einmal eine weitere Fotografie existieren wird, eine Fotografie, die die letzte Aufnahme gewesen sein wird, meiner Person als einer lebenden Person. Auch war mir bewusst geworden, dass das ZUR WELT KOMMEN mit Entfaltung zu tun haben könnte. Mein erster Schatten. Ich wäre im Jahr meiner Geburt in Farbe bereits möglich gewesen. — stop

signalleuchten
nordpol : 0.22 UTC — cnegwsi . downesji . tlensiunei . brekakcorei . unleaishi . bashjkiricohmecoi . troackteci . awfmuli . sotepmaniai . kkaizeni . jocurriisketelui . sketelui . warendjorfi . warendjorfi . kurytlari . nzitratoi . vampkiroi . skipfhirei. stop. Seltsame Dinge geschehen. Irgendein Mensch oder irgendeine digitale Maschine pflanzt seit Tagen Zeichenketten oder Wörter in den Code meiner Particleswelt. Hinter diesen Zeichen wiederum sind Weiterleitungen versteckt, die meine Augen in digitales Rotlicht führen. — stop
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regen
nordpol : 0.22 UTC — Seit 1271 Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Immer wieder schlafe ich ein, ohne je vom Regenzimmer zu träumen. Einmal, als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren und dachte darüber nach, wie sich unsere Menschenwelt verändern würde, wenn wir von einem Tag zum anderen Tag über armlange Zungen der Geckos verfügten? In welcher Form kämen sie in einer voll besetzten Straßenbahn zum Einsatz? Und wie bei der Liebe? Und wie im Streit? Und was würden diese Zungen wohl im Schlaf unternehmen? – stop
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nabokovs uhr
romeo : 0.02 UTC — Vor einiger Zeit schrieb Nabokov einen Brief. Er habe mir, so Nabokov, eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Wenige Tage später meldete sich Nabokov erneut: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich Dir sendete, angekommen? Wenige Tage zuvor war Nabokovs Uhr in meinem Briefkasten angekommen, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen nun eine Schachtel von hellem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, ovales Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt der Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte, das Gehäuse der Uhr zu öffnen, vergeblich. Erstaunlich ist, dass, wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, sich ein schmaler Schacht seitlich öffnet, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist. Sechssiebzehnzwölf. Erstaunliche Sache, wirklich erstaunlich! – stop

indulin
echo : 20.55 UTC — Eine wunderbare Geschichte habe ich vor vielen Jahren entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich möchte sie an dieser Stelle an diesem schönen Samstagabend wiederbeleben. Mercè Rodoreda schreibt: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: – Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
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