alpha : 5.56 – Ich habe heute Nacht eine Tonbandmaschine, einen Notizblock, Bleistifte, einen Radiergummi und einen gezeichneten Grundriss jenes Ortes, von dem ich erzähle, auf den Tisch vor mir abgelegt, auch einen hölzernen Kasten, in dem ich Karteikarten verwahre, die ich im Präpariersaal rasch beschrieben habe, Sekundenware, ein Verzeichnis der Geräusche, der Bewegungen, der Fragen, Atmosphären, Gedanken, die ich mit unruhigen Händen in meine geöffnete Handfläche notierte. Ich meine, einen feinen Geruch von Formalin zu vernehmen, der noch immer von den Kärtchen aufzusteigen scheint. Jetzt schreibe ich das Wort Meer und sofort danach das Wort Atlantik. Eine junge Frau sitzt vor diesem atlantischen Meer an Deck eines sehr großen Schiffes. Sie unterhält sich mit einem Matrosen, der ihr eine Zeitung brachte. Wenn ich sie so heimlich beobachte, meine ich zu erkennen, dass sie verliebt ist. Sie errötet, wenn der junge Mann zu ihr spricht, schlägt die Augen nieder, dann wirft sie Brot in die Luft zu den Möwen hin. — 5 Uhr 18. Seit Montag 25.8. wieder Funkzeichen aus Peking > Zeng Jinyan ( chinese : english by babelfish )
Aus der Wörtersammlung: sphäre
lichtschlitten
0.12 — Am späten Abend, um 22 Uhr und 28 Minuten präzise, verzeichnet der Google-Index 2.850.000 Ergebnisse für die Suche nach Albert Camus in 0,15 Sekunden und für das Wort Sonne 31.500.000 Einträge in 0.03 Sekunden. Ist es Menschen möglich, einen Zeitraum von 0.15 Sekunden vorzustellen? Könnte ich, wenn ich übte, ein Gefühl bewirken, für die Zeitdifferenz zwischen 0.15 Sekunden und 0.03 Sekunden? Wie lange Zeit müsste ich mit lauter Stimme sprechend zählen, bis ich die Zahl 850.000 erreicht haben würde? Könnte ich so weit zählen, ohne einmal schlafen zu müssen? – Kurz nach Mitternacht. Ich scanne die Fotografie einer indischen Frau, die vielleicht nie erfahren wird, dass die Aufnahme ihrer Person unter der Bezeichnung darjiling.gif der Elektrosphäre zugefügt worden ist. — Das feine Geräusch der Motoren, die den Lichtschlitten ziehen. Sieben Uhr achtundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
malcolm lowry
3.18 — Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinausgetragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notizgerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, Dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — stop
nadine gordimer
10.15 — Lektüre der Erzählung Something out There von Nadine Gordimer aufgenommen. Sofort der Wunsch, in der Elektrosphäre nach einer Fotografie des Karibasee zu suchen, weil Mrs. Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählt, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was haben die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon haben sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich lese von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin lese, von Seite zu Seite, von Link zu Link, vergeht eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnere ich mich an Nadine Gordimer und ihr Buch und setzte meine Lektüre fort. — stop
eugene ionesco
3.45 — Nehmen wir einmal an, alles Papier dieser Welt würde in ebendieser Minute zu Staub zerfallen. Wäre es denkbar, Eugène Ionescos Kosmos in der Elektrosphäre zu rekonstruieren? Wie viele Varianten Ionescos könnten wir dort finden? Würden wir Ionesco wiedererkennen? — stop