india : 2.18 — Nehmen wir einmal an, alles Papier dieser Welt würde in ebendieser Minute zu Staub zerfallen. Wäre es denkbar, Samuel Becketts Kosmos in der Elektrosphäre zu rekonstruieren? Wie viele Varianten Becketts könnten wir dort finden? Würden wir Beckett wiedererkennen? — stop
Aus der Wörtersammlung: elektrosphäre
Carson McCullers
nordpol : 20.58 — Carson McCullers faszinierende Ballade vom traurigen Café. Weil ich noch immer nur sehr schwerfällig mit der Hand in mein Notizbuch schreiben kann, notiere ich während des Lesens, indem ich in Gedanken wiederhole, was zu tun ist in den kommenden Stunden. Nachforschen in der Elektrosphäre. Wo genau, in welcher Straße, in welchem Haus wohnte Carson McCullers in Brooklyn? Ist denkbar, dass die junge Dichterin tatsächlich drei Wochen benötigte, um das Subway-System der Stadt New York verlassen zu können? Oder suchte sie in ebendiesem Raum der Zeit nach ihrer Wohnung, die sie nicht wieder finden konnte, weil sie mittellos und ohne genauere Ortskenntnis in einem U‑Bahnwagon zurückgelassen worden war. Wie viele Dollar kostete eine Flasche Whiskey im Jahr 1934? Wie viel ein Taxi? – Wenn ich in Gedanken notiere, wiederhole ich dreifach, was ich mir zu merken wünsche. Verlorenes, das könnte sein, bemerke ich nicht. Oder nur einen Schatten ohne Wörter. — stop
falterherzgeräusch
echo : 7.08 — Fünf Stunden habe ich in der vergangenen Nacht vergeblich nach einer Tonaufnahme in der Elektrosphäre gesucht, die das Geräusch eines schlagenden Falterherzens enthält. — stop
copernic
echo : 8.27 — Ich stelle mir vor, an diesem wunderschönen Morgen unterm Regenlicht, einmal die Spuren eines Menschen zu erfinden, von dem nichts geblieben ist, als der Schatten seiner Fragen an die Meta-Suchmaschine COPERNIC auf einem Notebook, das ihn von Geburt an begleitete. Können Krokodile hören? Eine Spur feinster Bohrungen der Luft. – Während ich diese Zeilen notierte, ist mir aufgefallen, dass bis vor Kurzem noch Menschen existierten, die in der Elektrosphäre nie eine Spur zeichneten. Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelduft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnen seidiges Haarnetz (Warum?), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, das Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, – Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. So alt ist sie jetzt geworden, die Wally, dass sie aufgehört hat zu leben.
lichtschlitten
0.12 — Am späten Abend, um 22 Uhr und 28 Minuten präzise, verzeichnet der Google-Index 2.850.000 Ergebnisse für die Suche nach Albert Camus in 0,15 Sekunden und für das Wort Sonne 31.500.000 Einträge in 0.03 Sekunden. Ist es Menschen möglich, einen Zeitraum von 0.15 Sekunden vorzustellen? Könnte ich, wenn ich übte, ein Gefühl bewirken, für die Zeitdifferenz zwischen 0.15 Sekunden und 0.03 Sekunden? Wie lange Zeit müsste ich mit lauter Stimme sprechend zählen, bis ich die Zahl 850.000 erreicht haben würde? Könnte ich so weit zählen, ohne einmal schlafen zu müssen? – Kurz nach Mitternacht. Ich scanne die Fotografie einer indischen Frau, die vielleicht nie erfahren wird, dass die Aufnahme ihrer Person unter der Bezeichnung darjiling.gif der Elektrosphäre zugefügt worden ist. — Das feine Geräusch der Motoren, die den Lichtschlitten ziehen. Sieben Uhr achtundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
nadine gordimer
10.15 — Lektüre der Erzählung Something out There von Nadine Gordimer aufgenommen. Sofort der Wunsch, in der Elektrosphäre nach einer Fotografie des Karibasee zu suchen, weil Mrs. Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählt, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was haben die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon haben sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich lese von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin lese, von Seite zu Seite, von Link zu Link, vergeht eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnere ich mich an Nadine Gordimer und ihr Buch und setzte meine Lektüre fort. — stop
eugene ionesco
3.45 — Nehmen wir einmal an, alles Papier dieser Welt würde in ebendieser Minute zu Staub zerfallen. Wäre es denkbar, Eugène Ionescos Kosmos in der Elektrosphäre zu rekonstruieren? Wie viele Varianten Ionescos könnten wir dort finden? Würden wir Ionesco wiedererkennen? — stop