Aus der Wörtersammlung: lima

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herzwesen

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lima : 5.18 UTC — Ein klei­ner Kopf, das ist eine Tat­sa­che. Und Augen ja, aber im Grun­de nicht unver­zicht­bar. Kaum Bei­ne, kaum Arme, das Wesen ruht in einer Scha­le, die über einen Abfluss ver­fü­gen soll­te, weil sein Kör­per von Was­ser umspült wird, weil das Wesen Nah­rung zu sich nimmt, gefüt­tert wird, manch­mal mit einem Löf­fel, übli­cher­wei­se mit­tels einer Son­de. Das Wesen ist mensch­li­cher Natur, ein redu­zier­ter mensch­li­cher Kör­per, der über kaum nen­nens­wer­tes Gehirn ver­fügt, es han­delt sich um einen Basis­herz­kör­per, um ein Herz­we­sen. Sobald erwach­sen gewor­den, es wird schnell erwach­sen, kann das fer­tig­ge­stell­te Herz von sei­nem klei­nen Kopf befreit wer­den. Nun kann man das fri­sche Herz aus der Scha­le neh­men und trans­plan­tie­ren, zum Bei­spiel, um ein kran­kes Herz zu erset­zen. Zurück in der Scha­le ver­blei­ben ein klei­ner Kopf und ein klei­ner Bauch. Die Augen des klei­nen Kop­fes sind geschlos­sen. Sobald man sich nähert, möch­te man mei­nen, das Wesen wür­de nur schla­fen. — stop


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ein heller windiger märztag

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oli­mam­bo : 15.55 UTC — Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an: Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer Tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Büchern geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — Heu­te nun, es ist Mitt­woch am Nach­mit­tag, habe ich selbst in einer digi­ta­len Pro­be fol­gen­de Text­pas­sa­ge gele­sen, die mich berühr­te. Chris­toph Rans­mayr hat sie notiert: „Mir war die Tat­sa­che oft unheim­lich, dass sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschich­te, die man nur lan­ge genug ver­folgt, irgend­wann in der Weit­läu­fig­keit der Zeit ver­liert – aber weil nie alles gesagt wer­den kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahr­hun­dert genü­gen muss, um ein Schick­sal zu erklä­ren, begin­ne ich am Meer und sage: Es war ein hel­ler, win­di­ger März­tag des Jah­res 1872 an der adria­ti­schen Küs­te. Viel­leicht stan­den auch damals die Möwen wie fili­gra­ne Papier­dra­chen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Him­mels glit­ten die wei­ßen Fet­zen einer in den Tur­bu­len­zen der Jah­res­zeit zer­ris­se­nen Wol­ken­front – ich weiß es nicht.“ aus: Die Schre­cken des Eises und der Fins­ter­nis: Roman von Chris­toph Rans­mayr — stop
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zuggeschichte

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nord­pol : 15.55 UTC — Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer Tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Bücher geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — stop
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von der reisenden warenwelt

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kili­man­dscha­ro : 22.02 UTC — Ich dach­te heu­te, in der Schweiz wür­den viel­leicht Men­schen exis­tie­ren, die ich als Uhren­trä­ger bezeich­nen könn­te. Uhren­trä­ger, weil sie je 50 Uhren an Armen und Bei­nen dicht an ihren Kör­pern tra­gen. So, in die­ser Wei­se von Uhr­wer­ken geschmückt, geht man als Uhren­trä­ger lei­se tickend vor­sich­tig spa­zie­ren, wan­dert in der schö­nen Natur her­um, ohne selbst­ver­ständ­lich auch nur eine der Uhren je abzu­le­gen. Auch im Schlaf wer­den alle Uhr­wer­ke getra­gen, wes­halb es in der nächt­li­chen Stil­le in den Zim­mern lei­se rauscht. Nach ein oder zwei Wochen keh­ren Uhren­trä­ger dann aus dem Leben in ihre Uhren­fa­brik zurück. Dort sind sie näm­lich ange­stellt, um voll­stän­dig neue Uhr­ge­schöp­fe in bereits gebrauch­te Ware zu ver­wan­deln, war­um? — stop
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vor langer zeit im dezember

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oli­man­bo : 0.02 UTC — Ein­mal kam ich von einem Besuch bei Freun­den nach Hau­se zurück, und wie ich so in mei­ne Woh­nung stol­per­te, ent­deck­te ich Mrs. Cal­las, die damals in Gedan­ken bei mir wohn­te, wie sie wei­nend vor einer Foto­gra­fie stand, vor einer Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die ich seit vie­len Jah­ren besit­ze und mir immer wie­der sehr ger­ne anse­he. Natür­lich wun­der­te ich mich, dass Mrs. Cal­las wein­te, weil die Foto­gra­fie zwei alte Men­schen zeigt, eine Frau und einen Mann, die fried­voll Sei­te an Sei­te in einer Küche an einem Tisch sit­zen. Rais­sa Orlo­wa, liest ihrem alten Mann, Lew Kope­lew, viel­leicht aus einem Buch vor. Und ich frag­te Mrs. Cal­las, war­um sie denn wei­nen wür­de, das sei doch eine sehr beru­hi­gen­de Foto­gra­fie. Ich glau­be, setz­te ich hin­zu, sie sind glück­lich. Mrs. Cal­las ant­wor­te­te unver­züg­lich, Ernst in der Stim­me, ja, das sind sie, glück­lich, ganz sicher sind sie sehr glück­lich. Ich wün­sche mir für mich ein Ende wie die­ses hier an der Wand, Mr. Lou­is. Sie müs­sen mir ein ande­res Ende schrei­ben! – Und so sit­ze ich nun müde auf dem Sofa und notie­re die­se Geschich­te, wäh­rend Mrs. Cal­las mich hoff­nungs­voll beob­ach­tet. Wie nur könn­te ich sie trös­ten, weil ich doch vor ihrem Schick­sal ohn­mäch­tig bin? Viel­leicht könn­te ich erzäh­len, dass ich Lew Kope­lew in Mün­chen ein­mal für weni­ge Sekun­den begeg­ne­te. Ich könn­te ihr beschrei­ben, wie er mir am Haupt­bahn­hof aus einer Men­schen­men­ge her­aus ent­ge­gen­kommt, wie ich sei­ne Erschei­nung, sei­ne statt­li­che Grö­ße, sei­nen schloh­wei­ßen Bart bewun­de­re. Und ich könn­te Mrs. Cal­las berich­ten, wie Lew Kope­lew mei­nen Blick bemerkt, wie er mich freund­lich betrach­tet und wie er mei­nen nicken­den Gruß erwi­dert, weil er in mei­nem Blick gese­hen haben wird, dass ich ihn für lan­ge Zeit gele­sen habe und immer wie­der lesen wer­de. – Ja, viel­leicht soll­te ich Mrs. Cal­las von die­sen Sekun­den mei­nes Lebens erzäh­len, und dass es erhol­sam sein könn­te, sich zunächst ein­mal zur Ruhe zu legen für zwei oder drei Tage.

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22 Uhr 12

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lima : 22.12 — Seit ges­tern Abend spät ist mir das unheim­li­che Wort „Gefechts­to­te“ bekannt. Wie vie­le unheim­li­che Wör­ter wer­den in die­ser Minu­te oder wäh­rend der kom­men­den Woche erfun­den und solan­ge in Echo­kam­mern wie­der­holt sein, bis wir gezwun­gen sein wer­den, sie in unse­re Wör­ter­bü­cher auf­zu­neh­men? — stop

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brooklyn : verrazano

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char­lie : 0.25 — Geträumt in einer Nacht im Janu­ar 2012, das Fähr­schiff John F. Ken­ne­dy wäre der Küs­te Sta­ten Islands ent­lang unter Ver­raza­no-Nar­rows Bridge hin­durch aufs offe­ne Meer hin­aus­ge­fah­ren. Das Schiff soll­te längst in Euro­pa ein­ge­trof­fen sein. — stop

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vom gehen

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lima : 15.08 UTC — Träum­te Schau­fens­ter­pup­pen, die sich durch ein Waren­haus beweg­ten. Man­che gin­gen unbe­hol­fen rück­wärts, kein Wun­der, hat­ten sie doch in der Fort­be­we­gung kei­ne Erfah­rung, stan­den Jahr um Jahr an ein und dem­sel­ben Ort, als wären sie ver­wur­zelt, ver­neig­ten sich, zeich­ne­ten unsicht­ba­re Figu­ren in die Luft, wink­ten Pas­san­ten zu oder Pas­san­ten her­an, lächel­ten oder zwin­ker­ten. Irgend­ein Zei­chen, viel­leicht von einem Men­schen von der Stra­ße her gesen­det, muss sie in Bewe­gung gesetzt haben. Im Übri­gen waren sie stumm, nichts war zu hören als ein lei­ses Sur­ren, etwas quietsch­te. — stop
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