ulysses : 22.01 — Seit einer halben Stunde das Wort Hibiskusbahn in meinem Gehör. Leichter Regen. — stop
Aus der Wörtersammlung: uhr
aufs offene meer
india : 5.08 – In dieser Nacht ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Ich beobachtete auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine die pendelnde Bewegung zweier Fährschiffe der Staten Island Flotte auf der Upper New York Bay. Es handelte sich einerseits um die Fähre MS Molinari, andererseits um die Fähre MS Andrew J. Barberi. Stundenlange planmäßige Reisen der Schiffe von Stadtteil zu Stadtteil. Plötzlich, es war gegen 4 Uhr europäischer Zeit gewesen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fähre MS Molinari Kurs auf das offene Meer hinaus, ein so von mir noch nie zuvor beobachteter Vorgang. Nach einer halben Stunde wurde das Schiff langsamer, wartete einige Minuten, als würde es nachdenken, um kurz darauf zu wenden und zur St. George Terminalstation zurückzukehren. Wenige Minuten später verliess die Fähre John F. Kennedy, eigentlich eine Tagfähre, das Terminal in Richtung Manhattansüd. Das ist tatsächlich sehr seltsam, ich muss wach bleiben, ich muss das Seltsame weiter beobachten. — stop
2 Uhr 12
delta : 2.12 – Im vergangenen Winterjahr nur zwei Paar und einen einzelnen Handschuh verloren. — stop
im verborgenen
delta : 0.55 — In Peter Bichsel’s Erzählung Die Erde ist rund wartet ein wunderbarer erster Satz. Der Satz geht so: Ein Mann, der weiter nichts zu tun hatte, nicht mehr verheiratet war, keine Kinder mehr hatte und keine Arbeit mehr, verbrachte seine Zeit damit, dass er sich alles, was er wusste, noch einmal überlegte. — Wie würde ich anstelle des Mannes zunächst vorgehen. Würde ich vielleicht ein Verzeichnis meiner Erinnerungen anlegen, oder würde ich mich still in meine Küche setzen und mich umsehen und überlegen, was ich von meiner Küche weiß? Da war vorhin noch eine Schüssel voller Äpfel, Mandarinen, Bananen gewesen, und der Wunsch, Gegenstände, auch erfundene Dinge und Wesen, unverzüglich zu öffnen, um nachzusehen, was in ihrem Inneren zu vermerken ist. Vorwärts suchen und erfinden in die Tiefe. Vorwärts bis hin zur letzten einsamen Haut, die jedes verbleibende Geheimnis umwickelt, eine Beruhigung. Aber dann, sobald ich beispielsweise ein Fernsehgerät betrachte, wenn es acht Uhr abends geworden ist, weiß ich, dass ich kaum noch etwas von da draußen wissen kann, weil je nur halbe Äpfel oder noch kleinere Teile zu erkennen sind, oder Äpfel, die nur vorgeben oder behaupten, Äpfel zu sein, oder Äpfel, die zu schnell geworden sind. Einmal beobachtete ich dort auf dem Bildschirm eine Kampfmaschine, die von einem Flugzeugträger aus startete. Im Verborgenen, außerhalb meiner Bildschirmlichtzeit, flog die Kampfmaschine vermutlich weiter. Was ist geschehen? — stop
nahe turku
nordpol : 5.12 – Gestern, es ist natürlich Nacht gewesen, überlegte ich, ob es eventuell möglich sein könnte, eine Uhr von reinstem Eis zu konstruieren, eine Uhr, die Zeit anzuzeigen, eine funktionierende Uhr, nicht nur einfach eine schöne Uhr und kalt, eine Uhr mit einem Uhrwerk von Eis, mit Zahnrädchen, die zu Wasser würden, wenn man sie erwärmte, und einem größeren und einem kleineren Zeiger aus den Tiefen des Humboldt-Gletschers sowie einem Zifferblatt von Schnee. Plötzlich halte ich einen Apfel in der Hand und friere und beschäftige mich eine halbe Stunde mit der Frage, woher die Vorstellung einer Eisuhr vielleicht gekommen sein könnte. — stop
3 uhr 58
echo : 3.58 – Funk is what you play. And it’s also what you don’t play. It is very important in funk what you don’t play. Melvin Parker in der 52. Minute des Films „Maceo Parker — My First name is Maceo“ — stop
ein gespräch
foxtrott : 0.28 – Einmal nur für kurze Zeit die unverrückbare Grenze des Todes mittels eines Funkgerätes überschreiten. Ich stellte mir vor, ich könnte ein Gespräch führen mit einem Selbstmordattentäter, sagen wir mit MMK. Ich berichtete O. von dieser Idee. Ich sagte, stell Dir einmal vor, ich würde folgende Sätze sprechen: Lieber MMK, jetzt bist Du also tot, Du hast Deinen Auftrag zur vollen Zufriedenheit Deiner Vorgesetzten erfüllt, Du hast Dich in die Luft gesprengt, in alle Himmelsrichtungen sind Teile Deines Körpers davongeflogen. Wie geht es Dir jetzt? Wo bist Du, mein Freund? — O., der interessiert zugehört hatte, antwortete: Sag, lieber Louis, was erwartest Du denn, was MMK antworten würde? Ehe ich sprechen konnte, setzte O. fort, er sagte: Ich nehme an, Du wirst daran denken, dass er Dir sagen wird: Kein Paradies. Dunkel. Nichts. Ich bin allein, verdammt. Er schaute mich bedeutungsvoll an. Was aber, lieber Louis, machst Du, wenn er Dir erzählt, dass er im Paradies angekommen sei, dass alles noch wunderbarer sei, als je vorgestellt, ja, was machst Du dann, mein Junge? — stop
5 stunden
nordpol : 10.22 – Ich beobachte das Fernsehgerät. Eine Reporterin des amerikanischen Fernsehens berichtet aus St. Denis, einer kleineren Stadt nordöstlich der größeren Stadt Paris. Sie erzählt in Echtzeit fünf lange Stunden lang. Die Sendung beginnt gegen 4 Uhr morgens, da ist es noch dunkel am Himmel, aber eine Straße der kleineren Stadt wird hell erleuchtet von Blaulicht und Scheinwerfern der Kameras, die nach Bildern und Geräuschen eines schweren Kampfes suchen. Schüsse sind zu hören, rhythmisch, drei oder vier dumpfe Detonationen. In Hauseingängen, vor Straßenecken, auf einer Kreuzung warten Polizisten und Soldaten, sie bewegen sich so, als wäre tiefster Winter, sie scheinen überhaupt nervös zu sein. Hinter der Flucht alter Häuserfassaden, die auf dem Bildschirm in einer scheinbar unverrückbaren Einstellung zu sehen ist, tobt dieser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mittels eines Sprengstoffgürtels getötet, von Festnahmen wird berichtet, Namen junger, berühmter Terroristen werden postuliert. Weil doch nur selten hörbar geschossen wird, werden etwas später, es ist Tag geworden, hell, immer wieder Szenen einer Zeit auf den Bildschirm gespielt, als noch Dunkel war am Himmel, als noch geschossen wurde, sodass alle es hören konnten, die gerade erst wach geworden sind. Gestern erzählte mir Nasrin, die in einem Café am Flughafen arbeitet, ein Kollege deutscher Muttersprache habe sie gefragt, ob M., ein weiterer Kollege, vielleicht sich freuen würde, dass in Paris so viele Menschen getötet worden seien. Sie habe geantwortet, er solle M. doch selbst befragen, woraufhin der Kollege deutscher Muttersprache gesagt habe, ihm würde M. ja doch niemals die Wahrheit sagen. Da habe sie nicht weitergewusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort einzuschlafen oder aufzuwachen. – stop
lissabon
2 Uhr 1
nordpol : 2.01 – Das beruhigende Wort Trompetenkäfer, aber das Wort Fassbombe. – stop