india : 0.15 — Wann wurde das Wort Dromedar zum ersten Mal von einem menschlichen Mund formuliert? Oder das Wort Straßenbahn? Oder das Wort Chlorgas? — stop
postkarte
echo : 5.15 – In meinem Briefkasten ruhte eine Postkarte, die von irgendjemandem mit winzigen japanischen Zeichen beschriftet worden war. Zunächst wirkte der Text wie ein Muster, das sich erst dann zu Schriftzeichen auflöste, als ich meine Brille aus der Schublade holte. Ich konnte den Text natürlich nicht lesen. Ich nehme an, die Postkarte wurde versehentlich in meinen Briefkasten geworfen. Bei genauerer Untersuchung stellte ich jedoch fest, dass die Postkarte in jedem anderen Briefkasten vermutlich gleichwohl ein versehentliches Ereignis gewesen wäre, die Postkarte trug nämlich keine Anschrift an der dafür vorgesehenen Stelle, aber eine Briefmarke des japanischen Hoheitsgebietes. Auch auf ihrer Rückseite war kein Adressat zu erkennen. Eine Fotografie zeigt Samuel Beckett, der unter einem blühenden Kirschbaum sitzt, oder einen Mann, der Samuel Beckett ähnlich sein könnte, der Dichter im Alter von 160 Jahren, er hat sich kaum verändert. Ein sehr interessantes Bild. Auf einem Ast des Baumes sind Eichhörnchen zu erkennen, sieben oder acht Tiere, die ihre Augen geschlossen halten. Ich erinnere mich, dass ich einmal davon hörte, Menschen würden immer wieder einmal Postkarten notieren, oft sehr aufwendig ausgearbeitete Schriftstücke, um zuletzt die Adresse des Empfängers zu vergessen. Das ist tragisch oder vielleicht eine Methode, Information an die Welt zu senden, die niemanden oder irgendeinen beliebigen Menschen erreichen soll. Nun liegt diese Postkarte neben Zimtsternen, Bananen und Äpfeln auf meinem Küchentisch. Zunächst hatte ich das Wort L i e b e r in die Google – Übersetzermaschine eingegeben und in die japanische Sprache übersetzt. Zeichen, die sich auf meinem Bildschirm formierten, waren mit den ersten Zeichen auf der Postkarte identisch. Ich weiß sehr genau, was jetzt zu tun ist. In diesem Augenblick jedoch scheue ich noch davor zurück, meinen Namen in die Maske der Suchmaschine einzugeben. Bald Morgendämmerung im Koffertext, ich höre schon Tauben auf dem Dach spazieren. – stop
nahe lemmon creek park
charlie : 2.58 — Seit einer halben Stunde suche ich nach einem Namen für einen Mann, den ich einmal vor längerer Zeit beobachtet habe auf Staten Island an einem Strand im Winter. Ich dachte, verdammt, hätte ich ihn doch nur nach seinem Namen gefragt, ich fürchtete damals, ihn zu stören, fürchtete, dass er sofort in den wilden Wäldern nahe dem Lemmon Creek Park verschwinden würde. So still wie damals am Strand, sitze ich nachdenklich und rufe mir die Gestalt des Mannes in Erinnerung, eine schattenlose Figur, die auf einem verwitterten Baumstamm hockt. Du heißt vielleicht Laurentius, denke ich, oder Henry, nein, nicht Henry, Laurentius wird ein guter Name sein. Der Strand ist nass vom Regen und vom Nebel, der tief über dem Meer hängt. Wenn man herausschaut, weg vom Land, sieht man Schiffe, aber nur ihre Bäuche, nicht Brücken, Container, winkende Passagiere. Ich glaube, auch Laurentius beobachtet in diesem Moment seines Lebens Schiffe und Nebel, manchmal schreibt er ein paar Sätze auf ein Notizblatt, reißt das Papier aus seinem Block, fasst in seine rechte oder linke Hosentasche, holt ein Fläschchen hervor, wickelt das Notizblatt um einen Bleistift, führt das in dieser Weise geformte Notizpapierstäbchen in den Hals des Fläschchens ein, verschließt den Behälter mit einem Korken, steht auf und schleudert ihn aufs Meer hinaus. Dann setzt er sich wieder auf den verwitterten Baumstamm, beobachtet die Schiffe, die west- und ostwärts der Küste folgen, um nach einigen Minuten eine weitere Notiz zu fertigen. Einmal kehrt eines der Fläschchen zurück, es ist möglicherweise von der Bugwelle eines größeren Schiffes aus der Strömung getragen worden. Als Laurentius das Fläschchen bemerkt, steht er auf, holt das Fläschchen aus der Brandung, dreht den Korken vom Flaschenhals und schüttelt das Fläschchen so lange, bis das Notizzettelröllchen auf seine Handfläche rutscht. Dann wirft er die leere Flasche wieder weit hinaus aufs Wasser, wo es für einen kurzen Moment verschwindet. — stop
morgens
olimambo : 0.15 — Einmal sitze ich in einer Straßenbahn. Plötzlich fällt ein Gedanke vom Himmel. Ich könnte, dachte ich, Gespräche inszenieren, Sätze wie Lebewesen für sich, Sätze, die vor den Menschen gewesen sind. Notwendige oder natürliche Sätze. — Ich notierte diesen Text vor ein oder zwei Jahren. Er berührt mich, aber ich kann nicht erinnern, was ich unter Sätzen, die vor den Menschen gewesen sind, verstanden haben könnte. — stop
turku
hybrid
delta : 0.05 — Eine nordamerikanische Radiostation meldete vor wenigen Tagen, die Regierung der USA habe die Absicht, Beschränkungen finanzieller Mittel für Forschung und Entwicklung hybrider Lebewesen aufzugeben. Eichhörnchen sind nun denkbar, die nicht nur in der Vorstellung, vielmehr tatsächlich menschliche Herzen in sich tragen, Herzen in der Größe, wie wir sie in Föten kurz vor ihrer Geburt beobachten, gut trainierte Herzen, jederzeit bereit, gepflückt zu werden. – stop
die luft über aleppo
nordpol : 22.01 — Seit Tagen lässt sich in aller Ruhe die Erfindung eines fragenden Gedankens beobachten. Es handelt sich bei diesem Gedanken um eine Zeichenkette folgenden Inhalts: Ist es vielleicht denkbar, die eingeschlossenen Bürgermenschen der Stadt Aleppo mit Trinkwasser, Medikamenten und Brot aus der Luft zu versorgen? Noch lässt sich nicht sagen, ob der Gedanke so weit in einer logischen Form verwirklicht werden wird, dass aus einem Gedanken im Stadium der Entwicklung, ein Gedanke werden könnte, der sich tatsächlich denken, also verstehen lässt, demzufolge mit einem weiteren Gedanken in Verbindung gebracht werden könnte: Wann werden wir die eingeschlossenen Bürgermenschen der Stadt Aleppo mit Trinkwasser, Medikamenten und Brot aus der Luft versorgen? — stop
=
nordpol : 0.02 — h i r n k e r n
ai : TÜRKEI — petition
Türkei: Menschenrechte gelten auch nach dem Putschversuch! Die türkischen Behörden gehen nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli hart gegen tatsächliche und vermeintliche Kritikerinnen und Kritiker der Regierung vor. / Amnesty International hat glaubwürdige Beweise zusammengetragen, denen zufolge Gefangene nach dem Putschversuch gefoltert wurden. Unter anderem gibt es Berichte über Schläge und Vergewaltigungen. Regierungsangehörige haben sich für eine Wiedereinführung der Todesstrafe für die am Putschversuch Beteiligten ausgesprochen. / Mehr als 10.000 Personen sind seit dem Putschversuch inhaftiert worden, mehr als 45.000 Menschen wurden entlassen, darunter auch Polizeikräfte, Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Im Land herrschen Angst und Verunsicherung. Viele Menschen fürchten aus gutem Grund um ihre Rechte und Freiheiten. / Zwar müssen die während des Putschversuchs begangenen Menschenrechtsverstöße untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Menschenrechte müssen dabei jedoch in vollem Umfang respektiert werden. / Die völkerrechtlichen Pflichten der Türkei sowie die in den vergangenen Jahrzehnten hart erkämpften Rechte und Grundfreiheiten müssen auch unter dem derzeit verhängten Ausnahmezustand gelten. Die Regierung darf die Menschenrechte nicht im Namen der Gerechtigkeit missachten. Denn wenn die Menschenrechte nicht geachtet werden, kann sich niemand sicher fühlen. Werden Sie aktiv! Beteiligen Sie sich an unserer Online-Petition und fordern Sie Präsident Erdogan auf, auch unter dem derzeit verhängten Ausnahmezustand die Menschenrechte zu respektieren!” Lesen Sie hier den vollständigen > PETITIONSTEXT
samstags
foxtrott : 5.12 — Früher Nachmittag, Sommer. Ich beobachte auf einem Fährschiff, das nach Staten Island fährt, einen älteren Mann bei konzentrierter Arbeit. Er sitzt auf einer Bank des Promenadendecks, tief über ein Buch gebeugt. Einige Kinder tollen in seiner Nähe herum, er nimmt, so sehr ist er bemüht, mit einem Bleistift den Zeilen eines Buches zu folgen, keine Notiz von ihnen. Ich denke zunächst, der alte Mann würde seine Augen mithilfe eines Bleistifts entlang der Zeichenlinie führen, aber als ich mich nähere, entdecke ich Wort für Wort eine leichte Verzögerung der Bewegung, die aus der Entfernung betrachtet doch wie eine fließende Bewegung wirkt. Am Ende jeder Zeile notiert der Mann eine Ziffer, vermutlich deshalb, weil er die Wörter des Buches zählt. Das ist seltsam und zugleich berührend, wie er so selbstvergessen auf dem großen Schiff verweilt, und ich hoffe, er möge auf Staten Island angekommen, mit dem nächsten Schiff zurückfahren nach Manhattan, und wiederum auf seinem Transfer Wörter zählen. Als das Schiff an das St. George Terminal anlegt, schließt der alte Mann das Buch, verstaut seinen Bleistift in einer Tasche seines Jacketts, erhebt sich mühevoll, um das Schiff langsam gehend über die Brücke, die sich zur Fähre hin senkte, zu verlassen. Im Saal des Terminals bleibt er für einen Augenblick vor einem Aquarium stehen, betrachtet die Fische oder sein Spiegelbild, um sich wenige Minuten später von der Menschenmenge, die auf das wartende Schiff strömt, mitnehmen zu lassen. Nebel ist aufgekommen, die Möwen, die das Schiff auf seinem Weg nach Manhattan begleiten, still. Ich stehe draußen auf der Promenade und beobachte das Wasser, wie es weit unten entlang des Schiffskörpers schäumt. Gelegentlich schaue ich durch Fenster zu dem alten Mann hin, zu seinem Buch, seinem Bleistift, seinen Händen. — stop