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eine stimme

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sier­ra : 14.15 UTC — Regen und Sonn­tag. Ich hat­te Mut­ter ange­rufen. Sie war unter­wegs gewe­sen, viel­leicht im Gar­ten, viel­leicht in den Ber­gen. Nach 10 Sekun­den schal­tete sich der Anruf­be­ant­worter an. Eine Stim­me, die die Stim­me Mut­ters war, mel­de­te ver­traut: Hier ist der Anschluss von Pau­la und Jür­gen. Ich sag­te sofort mei­nen klei­nen Spruch auf: Hal­lo, seid Ihr Zuhau­se? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es reg­net. Als mein Vater gestor­ben war, hat­te ich immer wie­der ein­mal gedacht, wie selt­sam ist, dass mei­ne Mut­ter, solan­ge sie nicht bei sich selbst anru­fen wird, nicht bemer­ken wür­de, dass ihre Begrü­ßung anru­fende Freun­de irri­tieren könn­te. Ich über­legte, ob ich Mut­ter nicht viel­leicht bei Gele­gen­heit dar­auf auf­merk­sam machen soll­te, dass wir eine wei­te­re Tonband­auf­nahme anfer­tigen könn­ten. Der Ein­druck unver­züg­lich, ich wür­de mei­nen Vater durch die­se Hand­lung distan­zieren, einen Geist hinaus­werfen aus dem Haus, in dem er wei­ter­lebt, in sei­nen Spu­ren, in unse­ren Erin­ne­rungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Com­pu­ter. Und da sind sei­ne Garten­schuhe, sei­ne Schall­platten, sei­ne Bücher und im Teich wer­den bald wie­der Rosen blü­hen, See­ro­sen, weiß und rosa, die vor lan­ger Zeit ein­mal von sei­ner Hand ins Was­ser gesetzt wor­den waren. Ja, so war das gewe­sen. Heu­te wie­der Regen und Sonn­tag. Und da sind nun Mut­ters Som­mer­schu­he ver­waist und ihre Win­ter­stie­fel­chen neben der Tür zum Gar­ten. In einer Schub­la­de in der Küche wer­de ich bald Mut­ters Blei­stif­te fin­den und Mut­ters Bril­len und Rezep­te von eige­ner Hand für Kuchen und Plätz­chen für das Weih­nachts­fest vor zwei Jah­ren. In einer wei­te­ren Schub­la­de ruhen ihr Rei­se­pass, ihr Geld­beu­tel, ihr Tele­fon­buch, Bro­schen und Wan­der­kar­ten durch die Wäl­der am See. Und da ist ihre hel­le Stim­me, ich weiß, dass sie im Tele­fon zu war­ten scheint, eine Stim­me, die noch mög­lich ist. — stop

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radionuklid

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alpha : 10.08 UTC — In der Vergan­gen­heit, heu­te wie­der, habe ich mir oft gewünscht, mein Leben wür­de aus der Sicht eines Vogels auf­ge­zeich­net, aus der Sicht eines Vogel­we­sens, das mich beglei­tet, Gesprä­che bei­spiels­wei­se, die ich täg­lich mit Men­schen füh­re oder heim­liche Gesprä­che mit mir selbst. Auch wür­de aufge­nommen, was ich gese­hen habe, wäh­rend ich reis­te, einen Ken­tau­ren auf einer der Usch­kan­ji-Inseln, Regen­tropfen am Strand von Coney Island, eine Amei­se auf Geor­ges Perec’s Schul­ter wäh­rend einer Fahrt in der Pari­ser Metro, mei­nen schla­fen­den Kör­per. Manch­mal ist es ange­nehm, sich zu wün­schen, was nicht mög­lich zu sein scheint, eine gro­ße Frei­heit der Speku­la­tion. In den vergan­genen Jah­ren wur­de mir immer wie­der ein­mal bewusst, dass die Verwirk­li­chung eines mich beglei­tenden Vogel­we­sens nicht län­ger uto­pisch ist. Ich ver­mag mir eine flie­gende Maschi­ne, ohne wei­te­re Anstren­gung vor­zu­stel­len, ein künst­li­ches Luft­wesen, vier Pro­pel­ler, ange­trieben von einer leich­ten Radio­nu­klid­bat­terie, die sich tatsäch­lich für Jahr­zehnte an mei­ner Sei­te in der Luft auf­hal­ten könn­te, ein bei­na­he laut­loses Wesen in der Gestalt eines Koli­bris, eines Tau­ben­schwänz­chen oder einer Bie­ne. Kaum wird das Flug­ob­jekt aus sei­ner Trans­portbox geho­ben und akti­viert, wird es für immer mei­ner Per­son ver­bun­den sein, mei­nem persön­li­chen Luft­raum, den ich mit mir füh­re, wohin ich auch gehe. Selt­sam ist viel­leicht, dass es gleich­wohl unmög­lich sein wird, die­ses Wesen je wie­der einzu­fangen, weil es sehr schnell ist in sei­nen Reak­tionen, schnel­ler als mei­ne Hand, schnel­ler als eine Gewehr­kugel, ein Wesen, das über die Flug­flucht­fä­hig­kei­ten einer Stuben­fliege ver­fügt. — stop

ping

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oulipo

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tan­go : 22.02 UTC — Wie wun­der­bar: Ouli­po. Es geht um die Erfin­dung des Rea­len, um Din­ge, die sind, und um Din­ge, die poten­zi­ell mög­lich sind. — Der küh­le Mund eines Papier­tier­chens, sein Jah­res­atem, der das Volu­men einer Blau­bee­re füllt. — stop

ping

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pulverpfeifen

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alpha : 12.08 UTC — In der schwan­kenden Stra­ßen­bahn wie­der höre ich, wie sie mit bren­nenden Augen nach Wör­tern suchen für das schep­pernde Licht des Magne­siums, für das Fau­chen der benga­li­schen Feu­er, die sie in ihren klei­nen Fäus­ten hiel­ten. Da ist eine Nacht­se­kunde, die Sekun­de, in der sie das rote, das verbo­tene Stäb­chen ent­zün­det und gera­de noch eben recht­zeitig von sich gewor­fen haben. Das Heu­len der chine­si­schen Pulver­pfeifen. Und da sind noch Funken­regen und blau­graue Wölk­chen, die sich auf klei­ne Zun­gen nieder­legten. Nicht die Feuer­blumen des Him­mels, das Spek­takel der nächs­ten Nähe entfes­selt die Erin­ne­rung von Stun­de zu Stun­de. Zünd­hölzer, ver­bor­gen in Hosen­ta­schen, sind zurück­ge­blieben, auch die­ses Schwe­fel­holz, eine heim­liche Geschich­te. – stop /koffertext

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wieder koffer unsichtbar

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alpha : 19.52 UTC — An die­sem Abend spa­zie­re ich hin­über zum Fried­hof, um zwei Ker­zen anzu­zün­den auf dem Grab mei­nes Vaters, das nun auch das Grab mei­ner Mut­ter sein wird. Vater ist also schon da, und Mut­ter wird bald hier­her zu ihm kom­men. Das gefro­re­ne Gras knis­tert unter mei­nen Schu­hen. Es ist still, der Stern­him­mel klar. Viel schö­ne klei­ne Lam­pen leuch­ten unter den Bäu­men. Ein paar Kat­zen­au­gen wer­den auch dar­un­ter gewe­sen sein. Auf dem Heim­weg erin­ner­te ich mich an eine Geschich­te, die ich vor eini­gen Jah­ren notier­te. Sie geht so: Mein Vater war ein Lieb­ha­ber tech­ni­scher Mess­ge­rä­te. Er notier­te mit ihrer Hil­fe Dau­er und Kraft des Son­nen­lichts bei­spiels­wei­se, das auf den Bal­kon über sei­nem Gar­ten strahl­te. Die Tem­pe­ra­tu­ren der Luft wur­den eben­so regis­triert, wie die Men­ge des Regens, der in den war­men Mona­ten des Jah­res vom Him­mel fiel. Selbst die Bewe­gun­gen der Gold­fi­sche im nahen Teich wur­den ver­zeich­net, Erschüt­te­run­gen des Erd­bo­dens, Tem­pe­ra­tu­ren der Pro­zes­so­ren sei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne. Es ist merk­wür­dig, bei­na­he täg­lich gehe ich zur­zeit auf die Suche, weil wie­der irgend­ei­ne die­ser Mess­ap­pa­ra­tu­ren einen piep­sen­den Ton von sich gibt, als ob mein Vater mit­tels sei­ner Maschi­nen noch zu mir spre­chen wür­de. Indes­sen habe ich seit zwei Tagen Kennt­nis von einer Foto­gra­fie, die mich neben mei­nem ster­ben­den Vater zeigt. Ich sit­ze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzu­se­hen wag­te. Ich habe tat­säch­lich eine Hand vor Augen gehal­ten und zwi­schen mei­nen Fin­gern her­vor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrach­te. Die Foto­gra­fie zeigt einen fried­li­chen Moment mei­nes Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lan­ge Zeit gefürch­tet habe. Wei­nen und Lachen fal­ten sich, wie Hän­de sich fal­ten. Mut­ter irrt zwi­schen Haus und Fried­hof hin und her, als wür­de sie unsicht­ba­re Ware in gleich­falls unsicht­ba­ren Kof­fern tra­gen. — stop

ping

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schnee

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romeo : 20.05 UTC — Es ist spä­ter Nach­mit­tag gewor­den eines Tages nach einer lan­gen Nacht. Wie­der, ich erin­ner­te mich, liegt ein Buch Julio Llama­zares’ vor mir auf dem Schreib­tisch. Ich habe das Buch geöff­net, um nach einem zärt­li­chen Satz zu sehen, ob er noch da ist. Er geht so: Für mei­ne Mut­ter, die schon Schnee ist. Die­ser Satz ist nun auch mein Satz. – stop

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warten

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echo : 22.06 — Der Vor­däm­me­rungs­schein der Schnee­kirsch­bäu­me im Halb­dun­kel eines Zim­mers im Haus der alten Men­schen, indem sie ihre Nacht­pa­pie­re ent­fal­ten. Kla­gen­der Atem. — stop

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schlafende mutter

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del­ta : 22.02 UTC — Wie vie­le Tage schon sit­ze ich an Dei­nem Bett, lie­be schla­fen­de Mut­ter, Stun­de um Stun­de. Immer wie­der den­ke ich, wie schwer es doch ist, zu einem Men­schen zu spre­chen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Hör zu, ich wer­de Dir eine Geschich­te vor­le­sen, die ich Dir schon ein­mal las vor über einem Jahr. Einen Win­ter und einen Früh­ling und einen Som­mer lang warst Du auf­ge­wacht, um nun wie­der zu schla­fen. Ich ahne, dass Du mei­ne Stim­me hören kannst, ich habe gelernt. Erin­nerst Du Dich an mei­ne Geschich­te, die von Dei­nen Bril­len erzählt: Es war noch dun­kel im Haus. Ich hör­te ein sir­ren­des Geräusch. Das Geräusch näher­te sich, es kam über die Trep­pe abwärts her­an. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine Dei­ner drei Bril­len, lie­be Mut­ter, die über zar­te Roto­ren ver­fü­gen, wel­che in der Lage sind, Bril­len­kon­struk­tio­nen durch die Luft zu bewe­gen, durch Räu­me oder den Gar­ten. Dei­ne Bril­le kam näher, durch­quer­te das Wohn­zim­mer, kreis­te ein­mal um mei­nen Kopf, lan­de­te schließ­lich sanft auf dem Ess­ti­sch in der Nähe des Stuh­les, auf dem Du, wie ich ver­geb­lich hoff­te, ein­mal wie­der Platz neh­men wür­dest. Über drei Bril­len ver­fügtest Du, lie­be Mut­ter, und jede die­ser Bril­len konn­te flie­gen. Eine Bril­le sta­tio­nier­te im Dach­ge­schoss, eine wei­te­re Bril­le im Erd­ge­schoss, die drit­te Dei­ner Bril­len, lie­be Mut­ter, zu ebe­ner Erde. Wie sie blin­kten, Dioden in gel­ber Far­be, Zei­chen, dass sie sich mit­tels unhör­ba­rer Funk­si­gna­le ori­en­tie­rten. Jetzt lie­gen sie auf dem Tisch­chen reg­los neben Dei­nem Bett, als wür­den sie schla­fen wie Du, lie­be Mut­ter. – stop
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