MELDUNG. Turku, Maariankatu 3, 4. Etage, steinernes Zimmer : Kirsche No 852 [ Marmor, Carrara : 6.05 Gramm ] vollendet. — stop
Aus der Wörtersammlung: gramm
im nachtexpress
MELDUNG. In einem Großraumwagon des Nachtexpresses Mozart von München ( Flughafen ) nach Wien ( Hauptbahnhof ) sind gegen Mitternacht aufgrund versehentlicher Entfaltung eines 2‑Sekundenzeltes drei tasmanische Singzikaden ( Cicadidae ), 22 australische Knotenameisen ( rot / Myrmicinae ) sowie ein Dornteufelchen ( 25 Gramm ) in die Freiheit entwichen. Noch etwas Weiteres war flüchtig, das knurrte, ehe es verstummte. — stop
belem
zansibar
mi oksana
tango : 0.08 — Gestern erreichte mich eine skurrile E‑Mail einer Frau namens Mi Oksana. Es ist denkbar, dass diese E‑Mail eigentlich von einem angeheiterten Computerprogramm notiert wurde, das sich zur Tarnung hinter einem poetisch wirkungsvollen Namen versteckte. Ich überlegte, welche Prozesse möglicherweise in einem digitalen Gehirn zu einem rauschartigen Zustand führen könnten, der eine Gestalt hervorbringen würde, die Mrs. Mi Oksana ähnlich sei. Sie notierte Folgendes: Lieber Louis, vor allen Dingen habe ich vor dich zu sagen, dass ich nur ernste Beziehungen mochte. Spielen ist nichts für mich, und ich bin ein ehrliches Mädchen. Wenn du auch reputabel bist und desselben suchtest, dann werde ich mich über einen Brief von Dir freuen. Mein Name ist Oksana. Ich bin 31 und ich wohne in Russland. Ich war nie verheiratet und ich habe keine Kinder. Vor einem Jahr habe ich mich getrennt und jetzt bin ich auf der Jagd nach einem Freund in deinem Staat. Ich hoffe, dass Menschen in deinem Staat sich mit Respekt zu einer Frau verhalten. Ich hoffe, dass du ein verantwortlicher Mann bist, und wir könnten probieren unsere Liebe aufzubauen. In dieser Mitteilung sende ich dir mein Foto. Ich hoffe, dass es dir gefallen wird. sofern auf mich gespannt bist, bitte gib mir Antwort und verrate deinen echten Namen. Ich hätte gern ein Foto Dich zu sehen. Schöne Gruße. Oksana — stop
manhattan
gramm
delta : 0.55 — Das Wort Sindschar in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Sindschar denke. Wie viel Gramm?
brief an dornier
echo : 2.02 — Sehr geehrte Damen und Herren von der Stiftung Dornier für Luft- und Raumfahrt! Ich wende mich hiermit höflichst mit der Bitte um Unterstützung an Sie, obgleich ich nicht sicher sein kann, mit meinem Anliegen Ihr Gehör finden zu können, da mein Vorhaben weder Aufgaben bemannter Luftfahrt, noch Aufgaben bemannter Raumfahrt berühren wird. Ich hoffe dennoch für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, es geht nämlich darum, einen kugelförmigen Körper zu entwickeln, nicht schwerer als 1,5 Gramm, der in der Art und Weise der Pflanzenflugsamen mit dem Wind durch die Welt reisen könnte. Im Objekt enthalten sein sollten je eine Kamera mit einem 360°-Objektiv, eine höchst leistungsfähige Batterie sowie ein Sender, der in Minutenfrequenz aufgenommene Bilder des Zufalls an einen Empfänger veräußern würde, an eine menschliche Person oder einen Computer, die sich um die Dokumentation der übermittelten Aufnahmen bemühen, sie katalogisieren, bewerten und gegebenenfalls veröffentlichen würde. Eine außergewöhnliche Eigenschaft dieses mikroskopisch kleinen Wesens sollte sein, dass es in seiner Form sehr flexibel sein wird, einer Flüssigkeit ähnlich. In dieser Weise existierend würde es beinahe jedes Hindernis überwinden, sich kaum irgendwo dauerhaft verfangen, deshalb für sehr lange Zeit auf Reisen sein, auch mit Meeresströmungen wandern, mit Dünen der Wüsten, durch Stadtlandschaften vagabundieren, durch Waldgebiete und Steppen, indessen immerzu fotografierend, eine zufällige, von keiner menschlichen Person vorbestimmte Spur gefangenen Lichts verzeichnend. Melden Sie sich bitte, sofern ich Ihnen aus dem Inneren meiner Vorstellung im Detail berichten darf. Ihr Louis – stop
manhattan
in üsküdar
whiskey : 0.55 — Y. erzählte vor einigen Tagen eine Geschichte, die sie als Mädchen im Alter von sieben oder acht Jahren in Istanbul erlebte, genauer in einem Hinterhof des Stadtteils Üsküdar. Sie sollte damals eine Tüte Pistazien und noch einige andere Dinge von einem Kioskladen holen, es war Sommer, und sie hüpfte raus auf die Straße und um die Ecke und rein in den kleinen Laden, und las einem Mann eine Liste der bestellten Dinge vor. Der Mann sah ihre Liste durch, lächelte ihr zu und stellte ein oder zwei Fragen, so in etwa: Wie viele Pistazien sollen es denn sein? Y. überlegte sorgfältig, aber letztlich konnte sie sich nicht erinnern, wie viele Gramm Pistazien ihr die Mutter zum Kauf aufgetragen hatte. Deshalb hüpfte sie auf die Straße zurück, aber anstatt zur Eingangstür ihres Wohnhauses zurückzukehren, trat sie in einem Hinterhof vor einen Balkon im 2. Stock. Die Tür zum Wohnzimmer der Familie, hinter der sie ihre Mutter wusste, war geöffnet. Sie rief so laut sie konnte: Mama! Dann wartete sie eine kurze Zeit. Als die Mutter nicht auf dem Balkon erschien, rief sie noch einmal: Mama, Mama, ich habe eine Frage, ich bin’s! Wiederum rief sie vergeblich, sie wartete und rief und wartete. Gerade als sie umkehren wollte, um den weiteren Weg, den sie gekommen war, zur Mutter in die Wohnung zurückzunehmen, bemerkte sie ein fremdes Mädchen neben sich, das vielleicht zwei Jahre jünger war als sie selbst. Das Mädchen hatte eine ihrer Hände genommen, sah sie bedeutungsvoll an, hob dann den Kopf zum Balkon empor und rief mit leiser, sanfter Stimme: Mama! Mama! Y. erinnerte sich noch nach vielen Jahren an die feine Stimme des Mädchens, die beinahe nicht zu hören gewesen war. Kaum eine viertel Minute verging, da erschien ihre Mutter auf dem Balkon und schaute zu den beiden Mädchen herab. Das war ein Moment ihres Lebens gewesen, den Y., die inzwischen selbst zwei Söhne gebar, nie vergessen konnte, ein Geheimnis: Warum hatte die Mutter auf die leise Stimme eines fremden Mädchens reagiert, aber die Stimme der eigenen Tochter nicht gehört? — stop