nordpol : 16.15 — Die Welt der großen Koffer, die Welt der grundsätzlichen Diskurse kommt in Bewegung. Das Vermögen, lesen und schreiben zu können, die Freiheit des Denkens, Sprechens, Glaubens, Brot und Zuckerpreise, Korruption, Selbstbestimmung, die Glaubwürdigkeit westlicher Politik, westlicher Kultur. Auf dem Tahrir-Platz wird getanzt, man betet, man feiert Hochzeit, man reicht Wasser, versorgt Wunden, bewacht den Schlaf der Schlafenden. Bedeutendes geschieht. stop. Eine Welle. stop. Zuhören. stop. Lernen. — stop
Aus der Wörtersammlung: nordpol
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nordpol : 18.16 — k n i e k e h l e
gehen und sitzen
nordpol : 22.15 — Habe schon viel nachgedacht und viel vergessen, während ich ging. Sobald ich spaziere, kommen Gedanken scheinbar aus der Luft. Wenn ich dann sitze auf einem Stuhl vor meiner Schreibmaschine, springen Gedanken aus den Händen, als ob jeder Finger über ein kleines Gehirn für sich verfügte. — stop
manhattan : eine frau verschwindet und kehrt wieder
nordpol : 7.05 — Gestern Abend folgte ich mittels der Google-Earthmaschine einer besonderen Route durch das südliche Manhattan. Ich kannte diese Strecke, war dort im Spätsommer des vergangenen Jahres auf eigenen Füßen spaziert, war Malcolm Lowry auf der Spur gewesen, seinen enger und enger werdenden Kreisen, die den Schriftsteller ein halbes Jahrhundert zuvor in das Bellevue Hospital führten, wo er sich, in höchster Not befindlich, vom Schmerzmantel des Alkohols zu befreien suchte. Immer wieder hatte ich damals jene Gegend nahe des East River aufgesucht, sodass ich eine beinahe vertraute Umgebung in digitaler Weise berührte. Gegen Mitternacht dann, ich hatte die Third Avenue gekreuzt, bog ich nach Norden ab, erreichte 30 Minuten später die 70th Straße. Da war an einer Ecke ein kleiner Laden, an den ich mich erinnerte. Versuchte ihm näherzukommen, zoomte heran, aber dann überquerte ich im Sprung die Straße mittels einer zarten Bewegung der Mouse, bewegte mich im Kreis und bemerkte in diesem Augenblick, dass eine Frau mit Hund, die gerade noch die Straße in nächster Nähe überquert hatte, verschwunden war, indem ich die Kreuzung von Osten her betrachtete. Auch war die Straße dunkler geworden, als wäre kurz zuvor Regen gefallen oder die Dämmerung des Abends eingetroffen. Um ein paar weitere Meter gedreht, war die Frau dann wieder da gewesen und ihr Hund, den Schwanz erhoben, und die Straße trocken. Eine Kreuzung, so mein Eindruck, gefalteter Zeit. Ich muss das beobachten. — stop
man on wire
nordpol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Philippe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem windigen Tag heimlich zwischen den Türmen des Worldtrade Centers gespannt worden war, mit Balancierstange in Händen auf den Rücken legt. Keine Filmaufnahmen existieren von jenem Moment aus nächster Nähe, aber Fotografien, die im Wissen des Windes und der Tiefe einen dehnenden, einen zerrenden Schmerz in meinem Körper erzeugen. Der Seiltänzer wurde festgenommen und einem Psychiater vorgeführt. stop. Schnee in Zeitlupe. stop. Ruhe. stop. Der Luftraum, in dem sich Philippe Petit bewegte, existiert weiter fort. — stop
hydra
nordpol : 17.58 — Hörte im Radio vor wenigen Minuten eine merkwürdige Geschichte. Man erzählte, durch New Jersey sollen seit Wochen Vorortzüge mit Abteilen von Stille in Richtung Manhattan fahren: Telefone und Spieldosen jeder Art verboten. Das könnte Gerücht, Erfindung, von Wünschen geträumt gewesen sein. Mit eigenen Augen dagegen habe ich beobachtet, wie im Supermarkt gleich um die Ecke, Zwergkakteen Mützen von rotem Stoff aufgesetzt worden sind. Bärte rauschen, weiße Bärte, mittels Nadeln sind sie an den Leib der Pflanzen genagelt. Auch dass es regnet, hier in meiner nächsten Nähe, das ist ganz sicher der Fall, so sicher der Fall wie das Wachstum einer weiteren elektrischen Hydra im Prozess der Selbstbehauptung. Gestern Abend, mitteleuropäische Zeit, verfügte sie über 208, kurz nach Mitternacht über 355 und weitere 12 Stunden später über 507 einander gleichende Köpfe. — Da war noch dieser alte Mann auf einem Basar zu Marrakesch. Wie er vor einer 40 Jahre alten Schreibmaschine sitzt und Liebesbriefe notiert gegen eine kleine Gebühr für Menschen, die nie gelernt haben, zu schreiben, zu lesen. — stop
nachtvogel
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : NACHTVOGEL
Eine merkwürdige Novembernacht neigt sich dem Ende zu. Ich habe, liebe Daisy, liebe Violet, in den vergangenen Stunden mehrfach den Versuch unternommen, einen Vogel von blauem Gefieder, der ein paar Runden durch meine Wohnung geflogen war, aufzufangen, das heißt, meine Hände in einer Weise darzubieten, dass der Vogel auf ihnen landen konnte, ohne auf den Boden zu fallen. Ich dürfte eine kuriose Erscheinung gewesen sein, wie ich mich verrenkte, wie ich dem Vogel folgte, wie ich Geräusche machte, als könnte ich in der Sprache der Vögel sprechen. Und jetzt ist es bald fünf Uhr und der Vogel ist immer noch hier. Er flattert herum, ein ausdauerndes Geschöpf von der Größe eines Tennisballes, orangefarbene Augen, gelber Schnabel, ein sehr besonderes Wesen, weil es sich um einen Vogel ohne Füße handelt. Sicher werdet Ihr Euch fragen, wie es möglich sein kann, dass der Vogel ohne seine Füße überleben konnte, dass er nicht längst in irgendeiner Ecke zerschellte, und überhaupt, wie es dazu gekommen war, dass der Vogel seine Füße verlor. Das alles liegt noch völlig im Dunklen. Ich habe keine Ahnung, nicht die geringste Vorstellung, sodass ich nun warten muss, solange warten, bis mir etwas einfällt, das noch fehlt, um vollständig werden zu können. Wie geht es Euch überhaupt? Denkt Ihr noch an die Frage, die ich Euch unlängst stellte? Ich wollte wissen, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht einen guten Tag!
gesendet am
11.11.2010
5.05 MESZ
1512 zeichen
marit
nordpol : 0.02 — Vergangene Nacht war ich wach geworden um fünf. Ich hatte einen merkwürdigen Traum, in dem Mr. Eliot erklärte, dass er Briefe, die ich an ihn schreibe, nicht lesen könne, weil er schon vor langer Zeit blind geworden sei. Ich war dann also wach um fünf und fühlte mich leicht, und ich wunderte mich, woher diese Leichtigkeit gekommen sein mochte. Da erinnerte ich mich, dass ich noch immer nachdrücklich auf eine Antwort James Salters warte, ich hatte ihm vor zwei Jahren zuletzt geschrieben. Auch Mr. Salter könnte blind geworden sein, kein Wunder, dass er nicht schreibt. Unverzüglich suchte ich in den Archiven nach dem Brief, den ich notiert hatte. Er war rasch gefunden, eine feine Geschichte, die ich berühre, die ich hier wiederhole, indem ich sie mit Stimme lese, in der Hoffnung, dass Mr. Salter mich hören kann: Lieber James Salter, als ich heute Nacht am Schreibtisch saß und in Ihren wunderbaren Erzählungen las, habe ich eine kleine Spinne bemerkt, die mich beobachtete, jawohl, sie saß auf dem Feinsten der Blatthaare eines Elefantenfußbaumes, der neben meiner Computermaschine steht, und beobachtete mich aus mehreren winzigen schwarzen Augen. Ich habe überlegt, was dieses Wesen wohl in mir sieht. Für einen weiteren kurzen Moment habe ich darüber nachgedacht, ob Spinnen vielleicht hören, – ich lese oft laut vor mich hin, das sollten sie wissen -, und so wunderte ich mich, dass ich viele Jahre gelebt habe, ohne der Frage nachzugehen, ob Spinnen über Ohrenpaare oder doch wenigstens über einen zentralen Gehörgang, wo auch immer, verfügen. Ich saß also am Schreibtisch, ich las und die kleine getigerte Spinne, von der ich Ihnen erzähle, seilte sich zur Tastatur meiner Computermaschine ab. Ich hatte den Eindruck, dass ihr diese Luftnummer Freude machte, weil sie ihre Landung immer wieder hinauszögerte, indem sie den Faden, der aus ihr selbst herausgekommen war, verspeiste, demzufolge verkürzte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich sie betrachtete, das ist denkbar, weil ich aufgehört hatte, laut zu lesen, für einen Moment, um nachzudenken, vielleicht wollte sie, um sich mir darzustellen, auf meiner Augenhöhe bleiben. Das war genau in dem Moment, als Marit nach ihrer letzten Nacht auf unsicheren Beinen die Treppe heruntergekommen war, Marit, die doch eigentlich seit Stunden schon tot gewesen sein musste. Marit setzte sich auf eine Treppe und begann zu weinen. Sicher werden Sie sich erinnern an Marit, wie sie auf der Treppe sitzt und weint, weil sie wusste, dass sie eine weitere letzte Nacht vor sich haben würde. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pause gemacht, weil ich erschüttert war, weil das Gift nicht gewirkt hatte. Ich saß vor meinem Schreibtisch und überlegte, ob auch sie, James Salter, erschüttert waren, als Marit langsam, auf unsicheren Beinen die Treppe herunterkam. Und während ich an Sie und Ihre Schreibmaschine dachte, beobachtete ich die Spinne, die mittels ihrer winzigen Beine, den Faden, an dem sie hing, betastete. Ist das nicht ein Wunder, eine Spinne wie diese Spinne? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es nicht möglich ist, mit einer elektrischen Schreibmaschine zwei Buchstaben zur gleichen Zeit, also übereinander, auf das Papier oder den Bildschirm zu schreiben? Immer ist einer vor, niemals unter dem anderen. Mit herzlichen Grüßen Louis.
die alte margareta spricht vom sterben
nordpol : 18.15 — Nachmittag. Wolken tief. Regen heut aus nächster Nähe auf den Schirm. Auch von der Seite her Tropfen, die so leicht sind, dass sie mit meinem Atem zurück gegen den Himmel fliegen. Mit Schreibmaschine sitz ich und beobachte handliches Kino. Dort das Gesicht einer uralten Frau. Sie heißt Margareta, die Margareta aus Wien. Margareta ist 91 Jahr alt. Von einem bösen Krebs schwer gezeichnet, spricht sie im Sterbehospiz in einer heiteren Weise Gedanken in die Kamera, die mich berührten, als ich sie zum ersten Mal hörte, so dass ich mir vorgenommen hatte, jeden ihrer Sätze in einer eigenen Textspur festzuhalten. Heute nun ist Margaretas Tag. Immer wieder halte ich den Film an und notiere Wort für Wort was Margareta zum Sterben sagt: Ich glaub nicht gar so. Ich glaub nicht, dass man in den Himmel kommt. Weil, mit was soll man denn? Ja, mit der Seele, nicht! Die Seele kommt in den Himmel. Ja, aber wer ist denn die Seele? Das weiß man dann auch nicht. Ich sag das nur, weil Sie mich gefragt haben. Weiß ich nicht, wie das dann geht! Ich hab eine Cousine gehabt, die war sehr christlich. Wenn die nur einmal nicht in die Kirche gegangen war, aber sie hat mir gesagt damals, sie war ein 18er-Jahrgang, ich bin ein 14er, mein Bruder war ein 17er, und sie hat gesagt: Das glaub ich nicht, dass es nach dem Tod noch was gibt. Sie meint halt, dass wenn man stirbt, dass es dann aus ist. Ich weiß es auch nicht. Aber ich schlafe jetzt auf die Nacht ein, und in der Früh werd ich munter, das hab ich jetzt dreimal schon gemacht, da denke und da träume ich gar nichts, so richtig nichts. Dann denk ich mir, siehst du, so wär das Sterben. Aber es ist halt so. Nein, so richtig weiß ich es nicht. Aber ich bin ja schon knapp davor. Mit 91 sind Sie knapp vor dem Sterben. Müssen Sie ja sein. — Margareta hebt einen kleinen Löffel vom Tisch. - Mein Gott, gar nichts essen möchte ich am liebsten. - stop