echo : 0.12 — Oliver Sacks notiert in seinem Reisebeobachtungsbuch Die Insel der Farbenblinden Folgendes: Meine Besuche auf diesen Inseln waren kurz und unvorbereitet, nicht an einen festen Plan oder ein Programm gebunden, nicht dazu bestimmt, eine These zu beweisen oder zu widerlegen, sondern einfach der Beobachtung gewidmet. Doch so impulsiv und unsystematisch sie auch waren, ich verdanke ihnen intensive, vielschichtige Erlebnisse, die sich in alle möglichen, mich ständig überraschenden Richtungen verzweigten. Vielleicht bedurfte es erst meiner Rückkehr, der Möglichkeit, die Erlebnisse wieder und wieder Revue passieren zu lassen und zu sichten, um ihres Zusammenhangs und ihrer Bedeutung (oder zu mindestens eines Teils ihrer Bedeutung) habhaft zu werden ― und um diesen Impuls zu verspüren, sie zu Papier zu bringen. Diese Niederschrift, die mich während der letzten Monate beschäftigt hat, erlaubte mir, ja zwang mich, die Inseln in meiner Erinnerung erneut aufzusuchen. Und da die Erinnerung, wie Edelmann ausführt, niemals nur simple Aufzeichnung oder Reproduktion ist, sondern ein aktiver Prozess der Rekategorisierung, der Rekonstruktion und Fantasietätigkeit, ― ein Prozess, der von unseren eigenen Werten und Perspektiven bestimmt wird, hat mich die Erinnerungsarbeit dazu geführt, die Besuche in gewisser Weise neu zu erfinden und so ein persönliches, eigenwilliges, vielleicht exzentrisches Bild dieser Inseln zu entwerfen, das zusätzlich genährt wurde durch meine Leidenschaft für Inseln und Inselbotanik. — stop
Aus der Wörtersammlung: olimambo
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olimambo : 0.12 — n a s e n z u n g e
morgens
olimambo : 0.15 — Einmal sitze ich in einer Straßenbahn. Plötzlich fällt ein Gedanke vom Himmel. Ich könnte, dachte ich, Gespräche inszenieren, Sätze wie Lebewesen für sich, Sätze, die vor den Menschen gewesen sind. Notwendige oder natürliche Sätze. — Ich notierte diesen Text vor ein oder zwei Jahren. Er berührt mich, aber ich kann nicht erinnern, was ich unter Sätzen, die vor den Menschen gewesen sind, verstanden haben könnte. — stop
von libellen : von zikaden
olimambo : 0.02 — Dass ich gut denken und erfinden kann, sobald ich Libellen beobachte oder von Libellen beobachtet werde, habe ich vor Jahren bereits bemerkt. Das ist möglicherweise so, weil Libellen sich in der Art und Weise der Gedanken selbst bewegen. Sie scheinen lange Zeit still in der Luft zu stehen und sind doch am Leben, was man daran erkennen kann, dass sie nicht zu Boden fallen. Etwas Zeit vergeht, wie immer. Und plötzlich haben sich die feinen Libellenraubtiere weiterbewegt. Sie sind von einer Sekunde zur nächsten Sekunde an einem anderen Ort angekommen. Genau so scheint es mit Gedanken zu sein. Sie springen weiter und machen neue Gedanken, ohne dass der Weg von da nach dort sichtbar oder spürbar geworden wäre. Irgendjemand müsste sofort Libellen erfinden, die Geräusche der Zikaden erzeugen, dann wär ich zufrieden. — stop
2 uhr 56
schallplatte
olimambo : 6.28 — Nehmen wir wieder einmal an, ich könnte die Geschwindigkeit meines Denkens für einen ganzen Tag vorausbestimmen, etwa so, als würde ich die Drehgeschwindigkeit einer Schallplatte durch das Umlegen eines Hebels verändern. Würde ich mich beschleunigen oder würde ich mich bremsen? Denke ich so schnell oder so langsam wie vor Jahren noch? — stop
schnee
olimambo : 2.22 — Ich hörte das Geräusch einer scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken, obwohl ich doch bereits wach geworden war. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte, ich hatte über das Geräusch schon einmal notiert. Ich erinnerte mich zunächst an meinen Text und dann an den Ursprung des Geräusches, das ich hörte, oder war es vielleicht genau andersherum gewesen? Das Geräusch meiner Erinnerung kam von einem Glöckchen her, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht worden war, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. Heute Schnee, sehr leise. — stop
lissabon
zwergdrache
marimba : 2.24 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarz-Weiß-Fotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorn hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – stop
mitado muje
olimambo : 2.02 – In einem Postamt der neuseeländischen Stadt Whakatane arbeite ein Nachtschichtbeamter mittleren Alters, der besondere Namen sammle. Er soll, so ein Gerücht, auf einem Drehstuhl vor einem Fächerregal sitzen und Briefe in zweierlei Hinsicht sorgfältig betrachten, ob sie nämlich einerseits ausreichend frankiert sind, um ihren Bestimmungsort erreichen zu können, anderseits würde er Namen von Adressaten, die sich in aller Welt befinden, ihrem Klang nach inspizieren. Sobald der Nachtmann einen Namen, der ihm gefällt, entdeckt, würde der Name auf einem Zettel notiert: Sakonakis Pina, Emilie Lionel, Pollie Patatas, Josef Thomey, Laily Pina, Clara Lorenz, Phillipe Odil. Es heißt, man könne diese Namen im Internet erwerben, vielleicht, wenn man einen geräuschvollen Namen benötigten würde, weil man eine Person erfinden möchte, die sich in poetischer Weise darzustellen wünscht, 10 Cent. Ich muss das überprüfen. – stop