20.50 — Die alte Frau mit der roten Handtasche ist tot. Während des Tages irgendwann muss sie im Hospital gestorben sein. Jetzt, es ist ohne sie wieder Abend geworden, verlässt ihr Fernsehgerät das Haus. Ein Hin und Her auf der Straße, noch nie gesehene, tieffliegende Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampfgeräusche, Gezeter, Verwünschungen, Empfehlungen, heisere Stimmen. Der Sohn ist da und der Sohn des Sohnes, betrunken steht der blutjunge Geier auf der Straße herum und regelt den Verkehr. Wohnungsauflösung. Nun, zu vorgerückter Stunde, hat sich mir das Wort erschlossen. Ein Prozess der Entropie, der Verwertung, des Verschwindens. Ich sehe die Verschwundene wie im Traum, eine 89-jährige Frau in bunter Kleidung, Stehlampe in der Hand, das Haus verlassen. Unlängst noch war sie unterwegs gewesen. Sie hatte bereits den Gang der Hochseematrosen. Manchmal rastete sie im Schatten der Bäume. Sie ging spazieren, als melde sie sich, Tag für Tag, bin noch am Leben. Niemand weiß genau, wie lange sie in der Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung lebte, sie war schon hier, als Bomben fielen, und noch immer, bis gestern, stolz und einsam und zu langsam für die rasende Stadt. Jawohl, sie war stolz gewesen, ließ sich nicht helfen, niemand durfte ihr Milch oder den Sand für ihre Tiere durch das Treppenhaus in die Wohnung tragen. Manchmal heulte das Fernsehgerät durch die Wand. Jetzt ist es vorbei, jetzt werden Monteure und Maler kommen. Es ist vorbei, auch für die Katzen. — stop
Aus der Wörtersammlung: rasen
Saint-Exupery
20.17 — Träumte, hinter dem Dichter Saint-Exupéry in einem Doppeldeckerflugzeug zu sitzen, offen im Wind über einer Wüste fliegend. Vor mir, in nächster Nähe, der Kopf des Dichters im Ledermantel, hin und her geworfen von Turbulenzen in der kühlen Höhenluft. Tief unter uns, in flirrender Hitze, rasch wandernde Dünen. Wir rasen entlang eines dunklen Bandes, das sich wie eine Schlange durch Täler windet. Dominosteine. Da und dort Beduinen, die ihre Zelte aufgeschlagen haben auf den Partikeln des Spiels. Kamele trinken aus Augenfeldern, die ohne Grund sind, dunkel, als seien Räume hinter ihnen angeschlossen. Von Zeit zu Zeit explodieren schwarze Wölkchen neben den Tragflächen des Flugzeugs, Qualm, der nach Schwefel duftet, nach Feuer und knallt. Plötzlich dreht sich der lederne Kopf herum. Fliegerbrille. Augen von altem Glas. Saint-Exupéry spricht, aber anstatt Wörtern, schießt ihm Wasser aus dem Mund. — stop
geräuschstempel
15.01 — Welches Geräusch erzeugen zwei Millionen Ameisenbeine, sobald sie in rasender Bewegung einen Baum erklimmen? Existiert vielleicht ein indianisches Wort für dieses spezielle Geräusch? Auf welchem Wege könnte ich von diesem Wort erfahren? Vielleicht einmal eine Geste für das Wort erfinden, sobald ich von ihm gehört haben werde. — stop
im wald
14.12 — Träumte einen Wald. Kühle Luft dort, steinerne Halme bis unter den Himmel, uraltes Zeug. Auch Affen, sie waren durchblutet, mächtige Tiere, von Kopf bis Fuß schwarz-weiß in Streifen. Auch die Ohren, schwarz und weiß. Sehr kleine Ohren, Ohren aus Mensch. Auf einer Lichtung drehte sich eine Kugel dicht über dem Boden, rasend schnell, elektrisch beleuchtet, warmes, angenehmes Licht. Sand flog auf an Ort und Stelle, und Laub. Da war noch Musik, eine Orgel, direkt aus dem Boden, Walzermusik. Auch Stimmen von dort, gedämpfte Stimmen. Nicht weit, etwas loses Papier im Gras. Und leere Flaschen. Die Luft stank nach Schnaps, nach Urin und diesen Dingen. Im Schatten einer kräftigen Buche lagen ein paar Bücher herum, ein Lowry, etwas Duras, etwas Fitzgerald, auch von Joyce ein paar Seiten, von O’Neill. Plötzlich Dämmerung, Zwielicht. Ich erinnere mich an das Haupt von Patricia Highsmith, das aus dem Boden ragte. Das war ein sehr schmutziger Kopf, ein Kopf, der lachte. Der Kopf sah mich an und sagte, heisere Stimme: Malcolm hat wieder ein Manuskript verloren. Dann schwieg er. Dann aber kühl: Ich wünsche eine Bestellung aufzugeben. — stop
djuna barnes
18.13 — Weshalb träume ich nur selten, und wenn, dann heitere Geschichten vom Zergliedern menschlicher Körper? Gestern beispielsweise kam der schöne Kopf einer Freundin auf acht winzigen Füßen über den Boden meines Arbeitszimmers spaziert. Sie rezitierte in rasender Geschwindigkeit einen Text Djuna Barnes mit lachgasheller Stimme. — Nichts ist noch selbstverständlich. — stop