charlie : 12.12 UTC — f i n g e r w a l d
Aus der Wörtersammlung: is
stille
echo : 15.02 UTC — Still im Wald an einem warmen Sommertag. Das Licht der Sonne streifte durch Blattdächer der Bäume, die sich kaum noch bewegten, vielleicht weil die Bäume durstig waren. Da und dort ein Falter weiß oder orange oder gelb, die waren schon immer zu leise gewesen im Flug für meine Menschenohren. Zwei Käfer, schwarz und rund, knisterten über den Weg, Blätterrascheln, nur eine Vorstellung, unter ihren Krallenfüßen. Keine Fliegen in der Luft, nicht eine einzige Fliege, aber zwei Vögel, in der ersten Stunde meines Spazierganges im stillen Wald der eine Vogel, und in der zweiten Stunde meines Spazierganges im stillen Wald, ein zweiter Vogel. Auch keine Ameisen weit und breit, keine Laufkäfer, keine Grillen, keine Zikaden. Und die Vögel, die ich beobachtete, waren stumm, vielleicht weil sie durstig oder hungrig waren. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete das Licht der Sonne, das nach mir suchte. Ich holte meine flache Radioschreibmaschine aus der Tasche, suchte in der digitalen Sphäre nach Geräuschen des Waldes, die kürzlich noch zu hören gewesen waren. Das Radio und der Wald. Eine Stille wie Wüste. — stop
hongkong : nacht
17 uhr 36
echo : 17.36 UTC — Wenn man schreibt, sollte man lesen. Wenn man viel schreibt, sollte man viel lesen. — stop
16 uhr 18
lima : 16.18 UTC — Hörte Friedrike Mayröcker von Steinen sprechen: Ist das Schreiben etwa wie das Ansetzen von Dominosteinen? — stop
am telefon
echo : 16.12 UTC — In Traum erzählte mir eine sehr alte Frau am Telefon, ich dürfe, sollte ich einmal zu Besuch kommen, ihr weder Fotografien noch Filmaufnahmen zeigen, die ich vielleicht entdeckt und aufbewahrt haben könnte. Sie sagte, dass sie sich vor Fotografien fürchte, sie habe immer sofort alles im Blick, sie könne nicht einfach nur eine kleine Portion betrachten, einen Ausschnitt eines Ortes, vor dem sie sich fürchte, es wäre immer alles sofort gegenwärtig, die Absicht des Bildes oder ein Zufall. Ich erinnere mich in diesem nächtlichen Gespräch versichert zu haben, ihr niemals eine Fotografie von dort zu zeigen. Aber ich gab nicht sofort auf. Ich bemerkte, dass es immerhin möglich wäre, Fotografien in kleinere Teile zu zerlegen, ich könnte diese Teile nummerieren und mit ihr gemeinsam auf einem Tisch Teilbild für Teilbild sehr langsam ergänzen, sie könnte sich in diesem Falle also an ein langsam entstehendes Bild zunächst gewöhnen, indessen ich ihr erzählen würde, was auf den Teilbildern bereits von der Absicht oder einem Zufall zu sehen ist. Als ich meine Rede unterbrach, blieb es still da drüben jenseits meines Telefonhörers, der selbst als ein vollständiges Telefon bezeichnet werden könnte. Dann wachte ich auf, es war Sonntag. — stop
nachts
sierra : 3.02 — Louis bat mich, eine Geschichte zu erzählen vom Glück, als ich noch ein Kind gewesen war. Ich musste nicht lange überlegen. Ich sagte, dass ich abends, sobald das Licht in meinem Zimmer ausgeschaltet wurde, heimlich in meinen Büchern gelesen habe. Zu diesem Zweck hatte ich eine Taschenlampe unter meinem Kopfkissen versteckt. Ich las immer im Sitzen, die Beine verschränkt, Jules Verne zum Beispiel. Aufregend, nicht nur die Bücher, sondern das verbotene Lesen zur Nachtzeit selbst. Während ich Louis von meinem Glück berichtete, erinnerte ich mich, wie mein Bruder, der in demselben Zimmer geschlafen hatte, einmal erzählte, ich, der Ältere, habe zur Sommerzeit wie ein leuchtender Berg ausgesehen, der sich manchmal bewegte. Hin und wieder, ich erinnere mich, flackerte das Licht, weil die Kraft der Batterien in der kleinen Lampe zur Neige ging. Ich musste dann immer ein wenig warten, bis sich die Batterien wieder erholten. Oft war ich in dieser Zeit des Wartens noch im Sitzen eingeschlafen. Da lachte Louis, vermutlich, weil er sich erinnerte.- stop
wildnis
india : 8.15 UTC — Einmal, und in der vergangenen Nacht wieder, im Traum eine Notladung nach einem Flug dicht über das Wasser hin über den Atlantik in einer Wildnis vor New York. Wir werden evakuiert, ich vergesse im brennenden Flugzeug Koffer und Papiere. Bin plötzlich ein Niemand, einer, der in einem Bett liegt, in einem Zimmer, in welchem sich Menschen vor Bildern bewegen, die sie betrachten und besprechen. Auch ich bin ein Bild, werde diskutiert, darf mich nicht bewegen, kann Sprechsprachen nicht verstehen. — stop
louise
von blüten
lima : 15.01 UTC — Vor der Verkündung des Urteils hat sich das Gericht vornehm zurückgezogen. Der Angeklagte sitzt auf seinem Platz und wartet. Links und rechts etwas erhöht haben sich auch seine Verteidiger, zwei angesehene Anwälte der Stadt, von ihren Plätzen nicht erhoben, man rechnet mit einer raschen Entscheidung. So auch der Staatsanwalt, ein jüngerer Herr, nicht einmal seine Robe hat er abgelegt, währenddessen er den Angeklagten gleichen Alters in einer vorsichtigen Art und Weise betrachtet, als sei er sich nicht sicher, mit seinem Plädoyer eine ausreichende Begründung für die hohe Strafe dargelegt zu haben, die er zuletzt über den Angestellten der städtischen Bibliotheken zu werfen forderte. Genau so hatte er noch gesprochen, werfen, nicht verhängen solle man eine Strafe über diesen Mann, der sich hier im Saale höchst unauffällig benommen hatte. Wann hatte er die erste Blume freigelassen, wann den ersten Samen ausgestreut? War es ihm denn nicht in den Sinn gekommen, dass er unrecht handelte, als er mit Vorsatz versuchte Urwald in der Stadt auszusetzen? Ja, wie konnte er denn glauben, dass man ihn ohne Strafe davon kommen lassen würde, nachdem seine Larentiae Sinensios vor dem Opernhaus das Pflaster sprengten, nachdem man im schönsten der zentralen Parks gerade noch verhindern konnte, dass der goldrote Samenstaub der Lobelia Frasensis sich des Palmenhauses bemächtigte? Ja wie konnte er gestatten, dass man ihn rühmte als einen guten Menschen, da doch die von ihm vornehmlich unter der Straßenbahnfahrt in die Luft gepuderten Kostbarkeiten der Nemuso Lasastro in den Lungen der städtischen Bürger wundersame Blüten zu treiben begannen? Man hatte lange Zeit Mühe, sie in ihrem Wachstum zu begrenzen. Das Wunder ihrer feuerroten Kelche drang aus den Gräbern derer, die an den Blüten erstickten. Dort, unter den Ulmen und Kastanienbäumen, kämpften die Gärtner einen ungleichen Kampf, wie ihre Brüder und Schwestern in den Hängenden Gärten der gläsernen Bankentürme, die vergeblich versuchten, die Taraxaca des gefräßigen Schäferkorbbaums aus ihren Häusern zu kämpfen. Morgens, wenn die herrliche Oktobersonne von Osten her in die riesigen Atriien schien, sah man wohlgeformten Fallschirme dieser fruchtbarsten Pflanzengeschöpfe in den künstlichen Winden des Gebäudes auf und niedergehen. Es war dies die Stunde, da man sich geschlagen gab, um dann doch wieder auszuschwärmen, um den Notrufen zu folgen, die von verzweifelte Angestellten aus ihren Büros abgesetzt worden waren. Der junge Staatsanwalt sieht durch das kühle Licht des Saales zu dem Angeklagten hinüber, und ein Schauer überläuft ihn bei dem Gedanken, dass gerade jene von der Stadt bezahlten Stunden des Studiums es den Bibliothekaren ermöglichten, in den biologischen Sammlungen und Archiven nach den Gierigsten unter den Blumen dieser Welt zu forschen. Er sieht diesen bescheidenen Herrn an einem behördlichen Schreibtisch sitzen, einem hölzernen, wie er die Fächer seiner ledernen Tasche mit Samen munitioniert. Und dann sieht er ihn spazieren, da dort lächelnd eine Dosis Blütensamen auf den Boden werfend, sodass schon bald darauf im Wechsel der Duft von Kamille, der Duft der blauen Andenhyazinten vom Schotter der Straßenbahngeleise aufzusteigen begann. Aus der Regenrinne des Polizeipräsidiums wuchert noch heute eine Commeline Cestre himmelhoch über Radioantennen hinaus, das Bersten ihrer Nüsse im Oktober ist noch über hunderte Metern hin deutlich zu hören, es sind Schüsse, es ist die reinste Gefahr, die dort über den Dächern der Stadt auf den Winter lauert. Da sitzen sie nun, ein junger Herr, ein Samenwerfer und ein junger Staatsanwalt, und warten auf das Urteil, das eine gerechte Strafe aussprechen möge. — stop