Aus der Wörtersammlung: wort

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jonathan

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echo : 20.12 UTC — Ich habe Jona­than unge­fähr drei Jah­re lang nicht gese­hen. Als ich ihm zuletzt begeg­ne­te, erzähl­te er von einem Film, der ihn hör­bar beein­druckt hat­te. Er sprach damals so schnell und auf­ge­regt, dass ich ihm nicht fol­gen konn­te. Ich dach­te nur immer wie­der: Jona­than, dass Du so schnell und unent­wegt spre­chen kannst, wo hast Du das gelernt? Vor weni­gen Minu­ten setz­te sich Jona­than im Zug zu mir und ich mach­te mich auf eine wei­te­re rasen­de Geschich­te gefasst. Es war aber ganz anders gekom­men, er sprach zunächst kaum ein Wort: Hal­lo Lou­is, lang nicht gese­hen. Kur­ze Pau­se. Ja, ich arbei­te noch immer in der Nacht. Lan­ge Pau­se. Fünf Minu­ten schwieg Jona­than. Er sah zu sei­nen Hän­den hin, die in sei­nem Schoß ruh­ten. Dann begann sich sei­ne lin­ke Hand behut­sam zu bewe­gen. Sei­ne rech­te Hand indes­sen war geöff­net. Jona­than schien einen Text zu schrei­ben auf einer nicht sicht­ba­ren Tas­ta­tur, die dort für ihn sicht­bar sein muss­te. Wei­te­re fünf Minu­ten ver­gin­gen in die­ser Wei­se des Notie­rens. Plötz­lich hör­te er auf zu schrei­ben. Er führ­te sei­ne rech­te Hand unter sei­ne lin­ke Hand und begann zu lesen. — stop

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eine stimme

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sier­ra : 14.15 UTC — Regen und Sonn­tag. Ich hat­te Mut­ter ange­rufen. Sie war unter­wegs gewe­sen, viel­leicht im Gar­ten, viel­leicht in den Ber­gen. Nach 10 Sekun­den schal­tete sich der Anruf­be­ant­worter an. Eine Stim­me, die die Stim­me Mut­ters war, mel­de­te ver­traut: Hier ist der Anschluss von Pau­la und Jür­gen. Ich sag­te sofort mei­nen klei­nen Spruch auf: Hal­lo, seid Ihr zu Hau­se? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es reg­net. Als mein Vater gestor­ben war, hat­te ich immer wie­der ein­mal gedacht, wie selt­sam ist, dass mei­ne Mut­ter, solan­ge sie nicht bei sich selbst anru­fen wird, nicht bemer­ken wür­de, dass ihre Begrü­ßung anru­fende Freun­de irri­tieren könn­te. Ich über­legte, ob ich Mut­ter nicht viel­leicht bei Gele­gen­heit dar­auf auf­merk­sam machen soll­te, dass wir eine wei­te­re Tonband­auf­nahme anfer­tigen könn­ten. Der Ein­druck unver­züg­lich, ich wür­de mei­nen Vater durch die­se Hand­lung distan­zieren, einen Geist hinaus­werfen aus dem Haus, in dem er weiter­lebt in sei­nen Spu­ren, in unse­ren Erin­ne­rungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Com­pu­ter. Und da sind sei­ne Garten­schuhe, sei­ne Schall­platten, sei­ne Bücher und im Teich wer­den bald wie­der Rosen blü­hen, See­ro­sen, weiß und rosa, die vor lan­ger Zeit ein­mal von sei­ner Hand ins Was­ser gesetzt wor­den waren. Ja, so war das gewe­sen. Heu­te wie­der Regen und Sonn­tag. Und da sind nun Mut­ters Som­mer­schu­he ver­waist und ihre Win­ter­stie­fel­chen neben der Tür zum Gar­ten. In einer Schub­la­de in der Küche wer­de ich bald Mut­ters Blei­stif­te fin­den und Mut­ters Bril­len und Rezep­te von eige­ner Hand für Kuchen und Plätz­chen für das Weih­nachts­fest vor zwei Jah­ren. In einer wei­te­ren Schub­la­de ruhen ihr Rei­se­pass, ihr Geld­beu­tel, ihr Tele­fon­buch, Bro­schen und Wan­der­kar­ten durch die Wäl­der am See. Und da ist ihre hel­le Stim­me, ich weiss, dass sie im Tele­fon zu war­ten scheint, eine Stim­me, die noch mög­lich ist. — stop

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pulverpfeifen

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alpha : 12.08 UTC — In der schwan­kenden Stra­ßen­bahn wie­der höre ich wie sie mit bren­nenden Augen nach Wör­tern suchen für das schep­pernde Licht des Magne­siums, für das Fau­chen der benga­li­schen Feu­er, die sie in ihren klei­nen Fäus­ten hiel­ten. Da ist eine Nacht­se­kunde, die Sekun­de, in der sie das rote, das verbo­tene Stäb­chen ent­zün­det und gera­de noch eben recht­zeitig von sich gewor­fen haben. Das Heu­len der chine­si­schen Pulver­pfeifen. Und da sind noch Funken­regen und blau­graue Wölk­chen, die sich auf klei­ne Zun­gen nieder­legten. Nicht die Feuer­blumen des Him­mels, das Spek­takel der nächs­ten Nähe entfes­selt die Erin­ne­rung von Stun­de zu Stun­de. Zünd­hölzer, ver­bor­gen in Hosen­ta­schen, sind zurück­ge­blieben, auch die­ses Schwe­fel­holz, eine heim­liche Geschich­te. – stop /koffertext

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ein mann

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del­ta : 22.15 UTC — Ich beob­ach­te­te einen Mann, der auf einer Roll­trep­pe ent­ge­gen ihrer Fahr­rich­tung spa­zier­te. Kurz dar­auf besuch­te ich einen Super­markt. Wäh­rend ich Äpfel und Bir­nen wog, dach­te ich an die­sen Mann auf der Roll­trep­pe. Ich über­leg­te, der Mann könn­te viel­leicht den Ver­such unter­neh­men, meh­re­re Tage und Näch­te auf einer Roll­trep­pe zu spa­zie­ren, ohne je das eine oder ande­re Ende der Roll­trep­pe zu errei­chen. Kurz dar­auf kam ich wie­der an der­sel­ben Roll­trep­pe vor­über. Der Mann lief noch immer gegen die Lauf­rich­tung der Trep­pe. Pas­san­ten waren ste­hen­ge­blie­ben. Ich selbst hat­te für einen Augen­blick ein selt­sa­mes Gefühl der Ver­ant­wort­lich­keit für das Han­deln des Man­nes. — stop
ping

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von herzohren

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oli­mam­bo : 2.22 UTC — Ein­mal stu­dier­te ich das Wesen der Schmeck­knospen, außer­dem eine anato­mi­sche Geschich­te, die sich mit dem Wort Schmeck­knospen ver­bin­det. Der Him­mel blitz­te ohne Don­ner, kaum Regen. Ich atme­te mit Vor­sicht, die Luft duf­te­te nach Schwe­fel. Wäh­rend ich las, bemerk­te ich, dass ich auch im Lesen sehr lang­sam gewor­den bin. Manch­mal lese ich so lang­sam, dass ich nicht Satz für Satz, son­dern Wort für Wort vor­wärts lese, jedes Wort, sagen wir, wahr­nehme wie es ist. Wäh­rend ich insge­samt lang­samer wer­de, schei­nen vie­le Men­schen um mich her schnel­ler zu wer­den, sie lesen immer schnel­ler, und sie lie­ben immer schnel­ler, und sie schrei­ben immer schnel­ler, und ihre Schu­he fal­len ihnen vom rasen­den Gehen immer schnel­ler von den Füßen. Und Ihre Woh­nun­gen wech­seln Stadt­men­schen so rasant wie frü­her ande­re Per­so­nen ihre Zim­mer in Hotels. Ich kann nicht sagen, ob ich nicht viel­leicht schon viel zu lang­sam gewor­den bin für das moder­ne Leben. Sicher ist, ich spre­che noch immer viel zu schnell, auch für sehr schnel­le Men­schen spre­che ich viel zu schnell. Wenn ich Herz­ohren sehr schnell erzäh­le, fällt nie­man­dem auf, dass ich von Herz­ohren erzähl­te, man glaubt, ich erzähl­te von Her­zen und ande­rer­seits von Ohren. Ein­mal wan­der­te ich sehr lang­sam von einem Zim­mer in ein ande­res. Ich beob­ach­tete mit gro­ßer Freu­de, dass ich in mei­ner Haut alles das, was not­wen­dig für das Leben sein wür­de, von dem einen Zim­mer, in dem ich aus dem Fens­ter geschaut hat­te, in das ande­re Zim­mer, in dem ich ein wei­te­res Buch lesen woll­te, mit mir genom­men hat­te, nichts blieb zurück. – stop

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notiz

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nord­pol : 15.08 UTC — Neh­men wir ein­mal an es wäre mög­lich, die Geschwin­dig­keit mei­nes Den­kens für einen Tag mei­nes Lebens zu bestim­men, etwa so, als wür­de ich die Dreh­ge­schwin­dig­keit einer Schall­platte durch das Umle­gen eines Hebels vari­ieren. Wür­de ich mich beschleu­nigen oder wür­de ich mich brem­sen? Ein Wort soll­te denk­bar sein und aus­sprech­bar. War­um? — stop

ping

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academia

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india : 5.16 UTC — Was­ser­bus. Dampf­schiff­chen. Botel­lo. Vapo­ret­to. Erstaun­li­che Wör­ter. — Ein­mal notier­te Roland Bar­thes: Spra­che exis­tiert. Und damit beschäf­ti­gen wir Struk­tu­ra­lis­ten uns, wir den­ken dar­über nach. Die meis­te Zeit reden die Men­schen, ohne zu wis­sen, dass die Spra­che exis­tiert, wir reden ohne zu wis­sen, dass wir reden. Wir wis­sen nur, dass wir Gedan­ken und Gefüh­le über­mit­teln. Aber wir reden, ohne das Gerings­te über unse­re eige­nen Wor­te zu wis­sen. — Ich höre sehr ger­ne mensch­li­che Stim­men, deren Spra­che ich nicht ver­ste­he, wie Musik. Heu­te beob­ach­te­te ich Zahl­zei­chen, die Vapo­ret­tos stolz an ihrem Bug seit­wärts tra­gen. 264 oder 58 oder 182. — stop
ping

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redentore

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nord­pol : 16.58 UTC — Von der Wasser­bus­sta­tion Reden­tore aus ist heu­te das Schwes­ter­chen Zitel­le nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mit­tels gewöhn­li­cher Ohren die Luft betas­tet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudec­ca, ein leich­ter Wind weht von Ost. Es ist viel­leicht des­halb so still, wo es doch nicht wirk­lich still sein kann, weil die Luft lang­sam west­wärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stel­le in die Tie­fe bege­ben wür­de, ein Fisch wer­den, ein Fisch sein, wenn man ins Was­ser tauch­te, könn­te man Zitel­le ganz sicher weit­hin sin­gen hören, ihr Pfei­fen und Zetern tag­ein und tag­aus, dass es eine wah­re Freu­de ist, wie sie immer wie­der kurz inne­hält, um zu lau­schen, ob ihr jemand ant­wor­tet viel­leicht von Palan­ca her oder von den Giar­dini – Zwil­lingen, die sich immer wie­der ein­mal mel­den, sobald die See stür­misch gewor­den ist. Es heißt, die­ses Sin­gen, Zetern, Jau­len der Wasser­bus­sta­tionen sei weit ins offe­ne Meer hin­aus zu hören. Kein Wun­der demzu­folge, kein Wun­der. – stop