Aus der Wörtersammlung: wort

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nazil

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marim­ba : 0.08 UTC – Nazil, die heu­te 82 Jah­re alt wur­de, erzähl­te, wie sie an einem Roman schrieb im Kopf wäh­rend sie tage­lang durch Kal­kut­ta streif­te. Alles habe damit begon­nen, sag­te sie, dass in einem Rei­se­bü­ro sich ein Mann plötz­lich ent­fal­te­te vor Begeis­te­rung, nach­dem er gehört hat­te, er sol­le eine Rei­se nach Kal­kut­ta recher­chie­ren. Zu die­sem Zeit­punkt habe sie selbst noch nicht wirk­lich vor­ge­habt, nach Kal­kut­ta zu flie­gen. Sie habe aller­dings zwei Jah­re vor ihrem Besuch eines Rei­se­bü­ros, eine Brief­son­de an eine erfun­de­ne, das heisst, nicht wirk­lich exis­tie­ren­de Per­son in Kal­kut­ta geschrie­ben. Eini­ge Wochen spä­ter sei eine Ant­wort von eben jener erfun­de­nen Per­son zurück gekom­men. Wirk­lich sehr selt­sam, sag­te Nazil, die heu­te 82 Jah­re alt gewor­den ist. – stop

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im park

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sier­ra : 2.55 UTC — Ges­tern beob­ach­te­te ich Lou­is, wie er in einem Park saß und eine Geschich­te in ein Notiz­buch schrieb. Das war ein schma­les Buch gewe­sen. Lou­is notier­te mit Blei­stift in sehr klei­ner Schift. Er hat­te des­halb eine Lese­bril­le auf­ge­setzt, die er immer wie­der ein­mal auf sei­ner Nase zurecht­rück­te. Es war sehr feucht am See, Libel­len jag­ten her­um, obwohl schon fast Dun­kel gewor­den war, und sie leuch­te­ten, blink­ten, als wären sie fern­ge­steur­te Hub­schrau­ber­we­sen. Lou­is schien sie nicht zu bemer­ken, er schrieb und schrieb, und wenn man sich näher­te, konn­te man hören, wie sein Blei­stift sacht über das Papier ras­pel­te. Das schma­le Buch war schon fast voll geschrie­ben und Lou­is Schrift wur­de immer klei­ner. Ich frag­te ihn: Sag, wor­über schreibst Du? Lou­is ant­wor­te­te, er schrei­be über einen Mann, der Las­ten­auf­zü­ge bedien­te, ver­schmutz­te Käs­ten, die in einem Lager­haus auf und abwärts fuh­ren. Der Mann, von dem Lou­is erzähl­te, arbei­te­te bereits seit Jah­ren in einem die­ser Käs­ten. Trotz­dem war er im Grun­de immer gut gelaunt. Das lag dar­an, dass der Mann sich vor­stell­te, er wür­de bald ein­mal in einem die­ser Las­ten­auf­zü­ge woh­nen. Er konn­te prä­szi­se beschrei­ben, wie sein zukünf­ti­ges Wohn­zim­mer beschaf­fen sein wird. Sofa, Rega­le für Bücher und Ele­fan­ten­sta­tu­ten, die der Mann sam­mel­te, Kak­teen und Bam­bus­pflan­zen, zwei Tische, ein Rubens­ge­mäl­de, Vasen, und so wei­ter und sofort. Nun, sag­te Lou­is, das Pro­blem ist, ich bin hier mit mei­nem Notiz­buch bald zu Ende, aber das Zim­mer im Auf­zug tritt immer deut­li­cher an mich her­an. Ich wer­de das Zim­mer in die­sem Büch­lein hier nicht unter­brin­gen. Ver­damm­te Sache! — stop

ping

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am mississippi

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alpha : 16.12 — Ramos erzähl­te ges­tern am spä­ten Abend von einer Metho­de, E‑Mail der­art zu pro­gram­mie­ren, dass sie sich kurz nach ihrem Auf­ruf vor den Augen des Lesen­den selbst zer­stö­ren oder auf­lö­sen wird, weil ihre Zei­chen hel­ler und hel­ler wer­den, bis sie unsicht­bar gewor­den sei­en. Ramos selbst will die­se Mög­lich­keit des Ver­schwin­dens pro­gram­miert haben. Wir notier­ten zur Pro­be einen elek­tri­schen Brief an mich selbst. Ich sen­de­te also einen kur­zen Text, den ich vor fünf Jah­ren bereits auf­ge­schrie­ben hat­te: 6.15 – Wäh­rend ich Stun­de um Stun­de in Ste­wart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobs­ter lese, immer wie­der das Wort Missis­sippi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Missis­sippi in der Fort­set­zung der Lek­tü­re nach und nach alle wei­te­ren Wör­ter und Gedan­ken ersetz­ten könn­te. In einem Wort ver­schwin­den. — stop - Sobald die E‑Mail, die mit­tels Ramos’ Pro­gramm notiert wor­den war, auf mei­ner Schreib­ma­schi­ne ein­ge­trof­fen war, öff­ne­te ich sie. Tat­säch­lich, kaum hat­te ich den Cur­sor mei­ner Schreib­ma­schi­ne über den Text hin bewegt, lös­ten sich sei­ne Buch­sta­ben auf, sie ver­blass­ten, waren bald nur noch eine Ahnung auf der Netz­haut mei­nes Auges. Ramos erklär­te, alle Zei­chen, die mit­tels sei­nes Prog­arm­mes ver­schlüs­selt wor­den sei­en, wür­den für eine Minu­te zur Ver­fü­gung ste­hen, man dür­fe den Text der E‑Mail jedoch nicht berüh­ren oder den Ver­such unter­neh­men, einen Screen­shot anzu­fer­ti­gen. Jede bekann­te Metho­de des Fan­gens auf künst­li­chem Wege sei unwirk­sam. Auch eine Foto­gra­fie zu neh­men mit­tels eines gewöhn­li­chen Foto­ap­pa­ra­tes sei nicht mög­lich. Ramos, der höcht begeis­tert wirk­te, woll­te mir nicht erzäh­len, wie die­ses Ver­hal­ten pro­gram­miert sein könn­te. Was bleibt, sag­te Ramos, ist eine E‑Mail die­ser Art aus­wen­dig zu ler­nen, um sie kurz dar­auf auf Papie­ren zu rekon­stru­ie­ren. — stop

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pong

pic

alpha : 20.02 — Kaum eine hal­be Stun­de ist ver­gan­gen, seit ich den Wunsch ver­spür­te, mich zu beru­hi­gen. Das war vor allem des­halb gewe­sen, weil ich mei­nen Puls in den Ohren schla­gen hör­te. So sehr hat­te ich mich auf­ge­regt über einen klei­nen Text, dem ich auf Posi­ti­on Twit­ter begeg­net war, dass ich kaum noch den­ken konn­te. Ich dach­te nur das eine: Du bist wütend, Lou­is! Ich setz­te mich also auf einen Stuhl und kon­zen­trier­te mich auf die Erfin­dung eines Wor­tes. Das half, das war schon immer so gewe­sen. Eini­ge Wör­ter, die ich bis­lang nicht kann­te, also ent­deck­te, sind Gebur­ten see­li­scher Span­nung. Auch dies­mal war bald Ruhe ein­ge­kehrt, nach­dem ich das Wort Zika­den­pau­ke for­mu­lier­te. Ver­mut­lich waren mei­ne Ohr­ge­räu­sche unmit­tel­bar für das Wort ver­ant­wort­lich. Aber das ist im Grun­de nicht wesent­lich. Das Wort ist ent­deckt und kann nun von Such­ma­schi­nen gefun­den, fest­ge­hal­ten und wei­ter­ge­ge­ben wer­den. — stop

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afrika

pic

echo : 0.08 — Ein Mäd­chen war­tet vor einer Ampel an der Hand sei­ner Mut­ter. Auf der ande­ren Sei­te der Stra­ße steht ein Mann in einem wei­ten, bun­ten Gewand. Er ist von schwar­zer Haut­far­be und spricht mit lau­ter Stim­me in ein Tele­fon. Das Mäd­chen fragt die Mut­ter: War­um redet der Mann so laut? Die Mut­ter ant­wor­tet: Der Mann tele­fo­niert mit Afri­ka, das ist weit ent­fernt. Das Mäd­chen schaut zu dem Mann hin­über. Plötz­lich sagt es: Das ist aber sehr weit ent­fernt. — stop

ping

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von lampen

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tan­go : 22.15 — Ein Mann schob einen klei­nen Wagen einen Flur ent­lang. Der Wagen war bepackt mit grö­ße­ren oder klei­ne­ren elek­tri­schen Lam­pen, die der Mann ent­zün­det hat­te, so als woll­te er, dass ich sie alle sehen könn­te, viel­leicht um sie an mich zu ver­kau­fen. Nein, eigent­lich war das ganz anders gewe­sen, ich wuss­te, der Mann ver­kauf­te kei­ne Lam­pen, son­dern er tausch­te Lam­pen aus, Decken­lam­pen, Schreib­tisch­lam­pen, Not­leuch­ten, Licht­ta­pe­ten, glim­men­de Stäb­chen, auch flie­gen­de Lich­ter, Droh­nen­leuch­ten. Die Dro­hen, sehr klei­ne Wesen, saus­ten um sei­nen Kopf her­um, als wären sie Insek­ten, Flie­gen, die Stirn­lam­pen tru­gen, mit wel­chen sie mehr oder min­der frei­wil­lig aus­ge­rüs­tet, ihren Flug doku­men­tier­ten. Wah­re Wol­ken von Licht waren zu bemer­ken, auch saßen Flie­gen auf dem Rücken des Man­nes, der in einer Wei­se leuch­te­te, als wäre Schnee gefal­len. Da war noch eine Schne­cke, die sich über sei­nen Hals beweg­te, auch die Schne­cke leuch­te­te: Das sehr schön aus, das vie­le Licht und der Mann, der sei­nen schau­keln­den Wagen über den Flur schob, gera­de eben auf mich zu. Plötz­lich blieb der Mann ste­hen. Er frag­te, ob ich die Schne­cke haben wol­le, sie sei zahm, sie ernäh­re sich von Staub, den sie zu sehr fei­nen Würm­chen pres­sen wür­de, wel­che ich dann bequem auf­sam­meln könn­te. Außer­dem sei sie sehr schön anzu­se­hen nachts auf ihrer Wan­de­rung durch die Dun­kel­heit. Ohne eine Ant­wort abzu­war­ten, fass­te sich der Mann an sei­nen Hals und zog am Gehäu­se der Schne­cke, die sich wehr­te, sie leuch­te­te zunächst rot und dann blau, und wur­de schliess­lich in dem Moment, da sie sich vom Hals des Man­nes lös­te, grün. So, in die­ser grü­nen Far­be leuch­tend, reis­te sie an der Hand des Man­nes durch die Luft. Kurz dar­auf hock­te sie an mei­nem Hals dicht unter dem Kinn. Ich ver­moch­te ihr Licht an mei­ner Schul­ter erken­nen, die Schne­cke schien sich wohl zu füh­len, leuch­te­te in einem schwa­chen Oran­ge, das pul­sier­te, lang­sam, beru­hi­gend. Ich sol­le ihr einen Namen geben, sag­te der Mann. Dann war Mor­gen, es reg­ne­te, selt­sa­mer­wei­se aus einer Wol­ke, die sich unmit­tel­bar über mei­nem Bett unter Zim­mer­de­cke türm­te. — stop

 

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poesie

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india : 8.15 — Das Inter­net scheint über ein gewal­ti­ges, flüs­si­ges Gedächt­nis zu ver­fü­gen, oder ist viel­leicht das Gedächt­nis selbst. Auch Lügen jeder Art wer­den erin­nert. Oder Erfin­dun­gen, die zunächst in Wor­ten for­mu­liert wur­den, Geschich­ten, Poe­sie. Als man sie dann schüt­zen will, als man ihren digi­ta­len Ursprung löscht, kom­men sie doch wie­der und wie­der in nicht enden­den Echos zurück. — stop

ping