himalaya : 18.08 — Er schreibe, erzählte M., damit sich in seinem Leben nicht alles wiederhole, Tag, Nacht, Winter, Sommer, wenn ich erfinde und das Erfundene notiere, dann ist das so, als würde ich neues Land entdecken, das ich betreten, auf dem ich spazieren kann. Deshalb bleibe sein Leben spannend, es würde ihm wohl nie langweilig werden, auch wenn er sich wochenlang mit ein und derselben Frage beschäftigen würde, zum Beispiel, weshalb er noch nie eine Fliege bemerken konnte, die auf dem Rücken fliegen kann, obwohl sie doch längst erfunden worden sei. — Vor wenigen Minuten habe ich an M. seit langer Zeit wieder einmal gedacht, es war vielleicht deshalb gewesen, weil ich einen Film beobachtete, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schriftsteller erwähnt Folgendes: Jener Zeitraum, wenn ein Buch veröffentlicht wird, wenn alle Leute mit dir darüber reden, ist sehr kurz, es ist nach wenigen Monaten vorbei. Dagegen hat das Schreiben des Buches vielleicht vier, fünf, sechs oder sogar sieben Jahre gedauert. Und für das nächste Buch benötigt man dann wieder so lange. Durch das Ringen habe ich gelernt, dass man diesen langen Prozess lieben muss. Man muss es lieben, zu üben, dieselbe Bewegung hundertmal zu wiederholen, mit demselben langweiligen Sparringspartner. Es dauert lange, Zentimeter für Zentimeter, hier etwas durchstreichen, diesen Satz an diese Stelle, den Satz hier weg und dorthin schieben, die Leute würden einschlafen, wenn sie einem Schriftsteller bei der Arbeit zusehen, oder einem Ringer beim Training. Es war wichtig für mich, das zu lernen. — stop
Aus der Wörtersammlung: ringer
ameisengesellschaft LN — 1722
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1722 [ Stöpselkopfameise : Colobopsis truncatus ] Position 47°81’N 12°48’O nahe Übersee / Folgende Objekte wurden von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : einhundertsiebenundzwanzig trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], zwölf Baumstämme [ à 8 Gramm ], sechs Raupen in Grün, sechs Raupen in Orange, dreiundsiebzig Insektenflügel [ vermutlich der Gattung der Birkenspanner ], fünf Streichholzköpfe [ à ca. 1.7 Gramm ], zweiundzwanzig schwarzbäuchige Taufliegen der Drosophila melanogaster in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 122 Gramm aus vergangenem Jahr ], sechs Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], dreiunddreissig gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 5 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht ovale Zwergkäfer [ vergoldet ], drei Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, sechs Wildbienen, zwei Eissonnenschirmchen [ in rot und blau ] je 5.008 Gramm. — stop
beringer & söhne
MELDUNG. 78 Kampfflugzeuge der Gattungen Me BF und Hurricane Mk, — von 16.30 bis 17.30 Uhr MESZ über Farnham [ Hampshire : südliches England ] sowie Bridgewater [ Somerset : südwestliches England ] abgeschossen, — stehen ab sofort bei Beringer & Söhne [ Spielhalle / Reeperbahn 8 ] wieder zur Verfügung. — stop
leuchtstoffe
himalaya : 3.15 — Nehmen wir einmal an, von einem Tag zum anderen Tag würden die Haare der Menschen zu leuchten beginnen, und zwar alle Haare ohne Ausnahme in genau dem Moment, da sie einem menschlichen Kopf verloren gehen auf natürliche Weise, weil ein Haar unter anderen Haaren in die Jahre gekommen ist, oder weil ein stürmischer Wind nach ihnen greift, oder gar durch Handlungen von liebevoller Leidenschaft oder von Streit oder Verzweiflung. Natürlich, das ist nun beinahe sicher anzunehmen, strahlen sie mit eher geringer Kraft, mit einer Leistung von einem hundertstel Watt vielleicht, aber immerhin genauso hell, dass man sie überall in der Dunkelheit erkennen würde, wie sie sich sammeln, wie sie über Straßen und durch Wohnungen fliegen, wie sie Nester bilden, sodass man sie sammeln könnte und bündeln zu leuchtenden Sträußen. Überhaupt würde es vielleicht bald nicht mehr dunkel werden, überall feiner schimmernder Sand, der nur äußerst zögerlich verschwinden wird. — stop
lichtluftnetz
india : 2.05 — Ich habe das Haus verlassen. Es ist Nacht. Der Wind raschelt in den Blättern der Kastanienbäume. Gerade eben ist die letzte Straßenbahn des Abends an mir vorübergefahren, ein leeres Gehäuse, nur der Fahrer war zu sehen gewesen. Ich sitze in einem Häuschen einer Haltestelle, weil ich nach einer Erscheinung suche. Ich halte meinen kleinen Computer in der einen Hand, mit der anderen navigiere ich den Mauszeiger über den Bildschirm, auf dem schon ein paar zarte, staubige Falter sitzen. Wenn ich die Anweisung gebe, Netzwerkverbindungen anzuzeigen, die sich in meiner Nähe befinden, ist da eine, die einen besonderen Namen trägt: Lichtluftnetz. Dieses Netzwerk existiert seit ungefähr drei oder vier Wochen. Es ist mittels eines Passwortes geschützt. Irgendjemand muss also das Wort Lichtluftnetz als Bezeichnung für ein neues Netzwerk eingegeben haben. Eine feine Erfindung. Wenn ich auf und ab gehe, kann ich sehen, dass sich die Signalstärke des Netzwerkes verringert oder vergrößert, ein nicht sehr starker Sender. Ich hatte für einen Moment die Idee, dass vielleicht über mir in den Bäumen eine Person mit einem Computer heimlich wohnen könnte. Ich habe, man wird mich vielleicht für verrückt erklären, gerufen: Hallo! Ist da jemand? Bisher war mein Rufen vergeblich gewesen. Und so sitze ich nun ganz still und versuche, mich mit jenem Netzwerk in Verbindung zu setzen. Ich habe den Verdacht, dass ich bereits beobachtet werde. Es ist eine wirklich schöne Nacht. So friedlich. — stop
in der dritten stunde schlafloser nacht
ginkgo : 2.55 — In dem Dokumentarfilm Unter Kontrolle, der von den inneren Räumen des Atomkraftzeitalters her erzählt, erklärt ein leitender Ingenieur den Wirkungszusammenhang zwischen computergesteuerten Routinen und menschlichen Wirkungsoptionen, die zu Sicherheit oder möglichst geringer Unsicherheit führen sollen. Es ist ein sympathischer älterer Herr, der dort spricht. Man sieht, er ist stolz auf die von menschlichem Geist geschaffene Maschine. Um seiner Überzeugungskraft nicht vollständig zu erliegen, muss ich mich bemühen, ich schwimme, mittels Gedankenbewegung, geradezu an gegen den Sog seiner Argumentation, ich denke: Three Mile Island, Tschernobyl, Fukushima, ein Telegramm, denke ich, das sich wiederholen lässt, ein kleiner Kopfrotor. Einmal äußert der sympathische alte Mann einen höchst bemerkenswerten Gedanken, er sagt, dass statistisch gesehen jeder Mensch 10 Fehler in einer Stunde unternehmen würde. Das ist eine sehr seltsame Sache. Mir geht das nicht mehr aus dem Kopf. Es ist jetzt bald drei Uhr in der Nacht, der Statistik zufolge habe ich bisher 28 Fehler unternommen, die jeder für sich nicht schwer gewesen sein dürften, weil ich noch immer existiere. Ich ruhte, zum Beispiel, in der vergangenen Stunde auf einem Sofa, ich habe weder telefoniert noch habe ich Musik gehört, auch habe ich in keinem Buch gelesen, ich habe an meinen Vater gedacht, an meine Mutter, an meine Schwester, an meine Brüder, und auch an jenen älteren Herrn und seine Begründung der Maschine. Bald, in wenigen Minuten, werde ich in die vierte Stunde dieses Tages treten. — stop
ein Millionstel Gramm Wort
tango : 16.22 — Meine neue Schreibmaschine ist leicht und flach, ihr Atem geht leise. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter meinem Hemd verbergen könnte, niemand würde sie bemerken. Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Maschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? L i m a. Wie viele Male wird es heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort L i m a, das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. — stop