0.15 — Ich schreibe diesen Text heut Nacht nur aus einem Grund: Ich wünsche, wach zu bleiben. Vor den Fenstern: Dunkel. Das Licht einer Straßenlaterne ist ausgefallen und der Himmel bedeckt. Jetzt stehe ich auf. Laufe hin und her und pfeife. Sobald ich am Schreibtisch vorüberkomme, setzte ich mich und schreibe ein paar Wörter und dann stehe ich wieder auf und gehe pfeifend weiter. Nichts weist darauf hin, dass dieser Text tatsächlich von einem laufenden Menschen gedacht und geschrieben wurde, von einer Person, die je nur ein oder zwei Worte notierte, um sogleich weiterzugehen. Alles könnte nur behauptet sein. — Weshalb höre ich auf zu pfeifen, sobald ich schreibe? Ist die Zeit, die ich damit verbringe, auf ein Wort zu warten, als Arbeitszeit anzusehen? Ist der Zustand konzentrierter Aufmerksamkeit für sich schon eine Leistung? — stop
Aus der Wörtersammlung: sehen
ham
2.02 — Seit Tagen sitze ich immer wieder einmal vor einer Fotografie, die den Schimpansen Ham zeigt. Zu einer Zeit, als ich noch nicht geboren war, wurde dieser berühmte, nordamerikanische Affe durch den Weltraum geschossen. Sein merkwürdiger Ausdruck kurz nach der Landung, ein Blick nach innen, vielleicht der nachträumende Blick aller Raumfahrer dieser Welt. — stop
china
0.20 — Im Winter nach Berlin, immer im Winter, immer nachts, im Westen ein langsam fahrender Zug hinter Bebra. Dann Grenze. Ein Posten. Türme. Metall. Und Licht. Gelbes Licht, demoliertes Licht. Und Hunde, jawohl, Hunde. Dann Osten. Von Stadt zu Stadt durchs unbekannte Land. Auf Bahnsteigen : Volkspolizei, Rücken zum Zug, Wachen oder so etwas, in den Abteilen mit Stempel, mal freundlich, mal finster, mal kühl. Dann wieder Grenze. Warten. Rangieren. Demoliertes Licht. Irgendjemand schlägt von unten her mit Metall gegen den Boden des Zuges. Hunde. Dann Westen. Herrn in Zivil, Staatsschutz, von Abteil zu Abteil. Dann Zoo. Wenn man so, immer nachts, reist, kaum Kenntnis vom Land, durch das man kommt, sagt man, das riecht hier anders, das riecht hier nach Kohle. Man steht an einem Fenster in diesem Zug, der wartet in Halle. Es ist gegen fünf in der Früh und man weiß, man darf nicht aussteigen, man weiß, die Anderen auf den Bahnsteigen jenseits der Posten, jenseits der Geleise, dürfen nicht einsteigen, man weiß, Schüsse könnten fallen. Die da draußen herumstehen, die aus dem Mund dampfen, die von der Morgenschicht in Halle, wissen das besser als die, die im Zug stehen und mit Westaugen einen Kontakt suchen für Sekunden. Schüsse könnten fallen, jawohl, Schüsse. Und deutsche Sprache, — Halt! Stehen bleiben!
Ich erinnere mich an eine Textpassage. Malcolm Lowry an Bord des Schlachtkreuzers, H.M.S.Proteus. Man liegt vor chinesischer Küste, man spielt Cricket an Deck. Nicht weit, jenseits des Wassers an Land, war ein schrecklicher Krieg im Gange. „Dum! Dum! Dum!, aber die ganze Sache fegte über unsere Köpfe hinweg, ohne uns zu berühren.“ — „Sie können sagen, dass ich dem Mann gleiche, von dem sie vielleicht gelesen haben, der sein Leben auf einem Schiff verbrachte, das regelmäßig zwischen Liverpool und Lissabon hin — und herfuhr, und bei seiner Entlassung über Lissabon nur sagen konnte : die Straßenbahnen fahren dort schneller als in Liverpool.“ Ich erinnere mich an eine Notiz des russischen Dichters Wenedikt Jerofejew : „Alle sagen, — der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum anderen, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen.“
Einmal, wieder Winter in Berlin, Berlin-West, 1987, ein Fest. Geräumige Wohnung. Auf den Tischen Schnapsflaschen und Erdbeergläser. Man sagt, das sei so üblich, — Gäste aus dem Osten, Schnaps auf dem Tisch. Da ist ein kleiner Mann, schütteres Haar. Sitzt die Nacht über an einem der Tische, trinkt und schlägt irre Rhythmen mittels Messern und Gabeln auf Teller, an Gläser. Man sagt, der Mann sei gerade rüber gekauft, man sagt, er habe in Bautzen II gesessen, man sagt, einmal, frostige Luft, habe man den Mann ausgezogen, man habe ihn ausgezogen und in eine Schleuse gestellt, man habe ihn dort vergessen unter freiem Himmel, dann habe man sich seiner erinnert, dann habe man ihn warm geprügelt. — Irre Rhythmen. — Hab ich also Land betreten. — stop
=
2.25 — f a s z i e n l o g e
pergament
17.32 — Saß traumwärts in einem Café nahe eines Meeres unter Männern, die Go oder etwas anderes spielten mit kleinen, runden, bernsteinfarbenen Steinen. Die Luft an diesem Ort war heiß und trocken. Ich wunderte mich nicht, dass die Männer, die von hohem Alter gewesen waren, sich mit gewaltigen Ohren Luft zufächelten in der Art und Weise der Elefanten. Seltsame Geräusche waren zu hören, schwere, knarzende Töne, als würde an hölzernen Schrauben gedreht. Und doch war die Haut der Ohren so fein, dass man durch sie hindurch sehen konnte. Sobald sie hinter den verwitterten Köpfen zusammenschlugen, wurden die Augen des Herrn zu Schlitzen, bewegten sich die luftigen Häute zurück, öffneten sie sich. Hinter dem Tresen dämmerte ein weiterer Mann, der hatte sich mit seinem Pergament das Gesicht zugedeckt. Ich betrachtete ihn eine Weile, und schon war ich, noch im Stehen, dem heutigen Tage zu, eingeschlafen. — stop
spixara
pingpong
20.12 — Früher Abend. Sehr heiße Luft. Ich frage mich, sind Geschöpfe, die über 5 Beinpaare verfügen, noch als Käfer anzusehen? Ich schreibe einem Freund eine E‑Mail. Kaum habe ich meine Frage notiert, abgeschickt und mich erhoben, um etwas die Beine zu vertreten, kommt ( Ping ) seine Antwort: Bin zurück > Sonntag, 26. August 2012. Haben Sie eine gute Zeit. Truman. Es ist jetzt 10 Minuten später. Eine gute Geschichte. Habe ich diese Geschichte erfunden? — stop
zyklope
20.33 — Einmal, vor zwei oder drei Jahren, erzählte mir ein junger Medizinmann einen merkwürdigen Traum. Folgendes, sagte der Mann. Stell dir einen Wartesaal vor, einen Bahnhof. Reisende sitzen dort auf hölzernen Bänken. Sie rauchen und plaudern miteinander. Unweit einer Schaltergalerie kauern unbekleidete Zyklopen von schneeweißer Haut zu einem Kreis auf dem Boden, tauschen Herzen und Gehirne und Beine und Arme von Menschen. Sie rauchen gleichwohl und scherzen in einer Sprache, die nicht zu verstehen ist. Ich erinnere mich, meinen eigenen Kopf gesehen zu haben. So lange reichen sie ihn herum, bis jeder der Zyklopen ihn ein Mal in Händen gehalten und von allen Seiten her betrachtet hat. — An dieser Stelle machte der junge Mann eine Pause. — Wolkenloser Nachthimmel mit Mond. Der Eindruck, es würde regnen. — stop
engelwerkstatt
18.52 — Engelwerkstatt [ Blaupause No 7752 ] : Die Engel der Nilpferde, zum Beispiel, manchmal kann man sie sehen in den Winden, die das Gras der Steppen durchwehen. — stop