india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen.
Schlagwort: sehen
propeller
sierra : 5.15 — Für einen Moment, für 20 oder 30 Sekunden, war heute Nacht der Strom ausgefallen. Überfallartig die schwarze Farbe der feuchtwarmen Luft und in dieser Farbe, die sanft mein Gesicht berührte, das schnurrende Geräusch der Propeller meiner Süßwasserfiltermaschine, Fische, die schlaftrunken durchs Wasser schossen, Fische, die die Grenzen ihrer gläsernen Welt berührten, auch das ein Geräusch, ein etwas dunkleres p i n g, knöchern, schmerzhaft. Da war noch das Seufzen der Kühlschranktür von der Küche her, das Geräusch meiner Finger, die auf dem Schreibtisch nach einem Feuerzeug suchten, Schritte von oben, vom Dach, mein Atem. In diesem Moment der Finsternis, ich weiß nicht warum, erinnerte ich mich an Noe, meinen Taucher, und sofort, nachdem das Licht zurückgekehrt war und mit diesem Licht, die Möglichkeit, das Internet zu erreichen, besuchte ich Noe, lauschte eine Weile, las was er zu sagen hatte, was er in der Tiefe des Atlantiks vor Neufundland in die Schreibmaschine tippte, war glücklich, dass Noe noch existierte: r e d f i s h r i g h t w a r d s. s t o p also schreibe ich. s t o p ich schreibe was ich sehe. s t o p feine stäube treiben durchs wasser. s t o p schattenlose wesen. s t o p lichtzeichen. s t o p pulse. s t o p habe versucht die gestalt eines kühlschranks zu erinnern? s m a l l b l u e f i s h r i g h t h a n d . s t o p lange zeiten der beobachtung. s m a l l g r e e n f i s h t o p l e f t. s t o p meine schreibenden hände. s t o p die bewegung der handschuhe auf der tastatur der maschine. s t o p als ob ein anderer arbeitete so fern scheinen mir ihre gesten zu sein. s t o p fremd. s t o p wie lange zeit habe ich meine unbekleideten hände nicht gesehen? s t o p
istanbul
nordpol : 2.55 — Beobachtete nachmittags auf meinem Fernsehbildschirm einen Blitz, der einen Abend zuvor von einer Handykamera aufgenommen worden war. Dieser Blitz ereignete sich in Istanbul zu einem Zeitpunkt, als ich gerade überlegte, ob ich in einem Buch lesen sollte oder besser noch etwas notieren über die Kirschholzwangen einer japanischen Frau, die ich gerade erfinde. Aber mein Kopf war in der feuchtwarmen Luft doch sehr langsam geworden, also stellte ich mich für zwei Minuten unter kaltes Wasser und als ich zurückkam und mein Fernsehgerät einschaltete, konnte ich sehen, was der Blitz, den ich erst einen Tag später mit eigenen Augen sehen würde, angerichtet hatte. Menschen lagen bewegungslos auf einer Straße herum und andere Menschen, die sich bewegten, versuchten jene Menschen, die lagen und sich nicht mehr bewegten, zu überreden, es ihnen gleich zu tun, also zu atmen und weiterzuleben, als sei der Blitz nie geschehen. Da war das Geräusch von Ambulanzen, ein jaulender Ton, von dem ich häufig träume, und da war die Stimme einer amerikanischen Frau, die die Explosion zweier Bomben meldete, einer kleineren, lockenden Bombe und einer größeren, mordenden Bombe. Als ich gestern Nachmittag dann auf meinem Fernsehbildschirm jenen Blitz beobachtete, der so viele Menschen tötete, dass zwei Hände nicht ausreichen, sie mit den Fingern zu zählen, habe ich überlegt, ob ich nicht bald einmal wagen sollte, einen Attentäter zu erfinden, also mich in einen Attentäter zu verwandeln auf dem Papier, mich hineinzuversetzen in eine Figur, die Bomben legt, um Menschen zu töten. Ist es möglich, frage ich, mich in einen Attentäter solange hineinzudenken, wie ich mich in eine japanische Frau hineindenke, eine japanische Frau mit einem kirschhölzernen Gesicht, ohne Schaden zu nehmen?
simbabwe
delta : 0.02 — Gestern, am frühen Nachmittag, legte ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nachtarbeit sehr müde war. Ich stellte mein Fernsehgerät an, dort lief ein kleiner Charlie Chaplin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde nach zwei Stunden, war der kleine Film zu Ende und ich sah in einem anderen Film eine Frau in einer sehr schönen, grünen Landschaft auf dem Erdboden liegen. Die Frau, die ich sah, war eine afrikanische Frau, eine Bürgerin des Staates Simbabwe. Sie lag dort in Simbabwe auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sitzen konnte. Sie war ungefähr so alt wie ich oder sehr viel jünger, der tägliche Hunger hatte sie vielleicht älter gezeichnet, und sie schaute in die Kamera, eine europäische Kamera, und sagte, dass sie so gerne eine Apfelsine haben würde.
himmelbahn
romeo : 1.15 — Überlegte, was wäre, wenn ich einmal meine Sprache verloren haben würde, wenn eine Ameise vor einer nunmehr sprachlosen Person über einen Tisch spazierte? Was würde ich noch denken, wenn ich dieses Tier sehen, aber kein Wort für seine Erscheinung in meinem Kopf entdecken könnte? Ich müsste vielleicht ein Wort erfinden in diesem Moment, um das Ameisentier wahrnehmen, das heißt, über das Tier nachdenken zu können. Vielleicht würde ich mich an das Wort Eisenbahn erinnern. Vielleicht würde ich sagen, das ist eine sehr kleine Eisenbahn, die über den Himmel laufen kann.
schreibtischkäfer
echo : 1.52 — Seit einer Stunde genau wohnt ein Käfer auf meinem Schreibtisch. Der Käfer ist so klein, dass ich ihn zunächst nicht sehen konnte, aber ich konnte ihn riechen, er roch nach heißem Zinn, was doch sehr seltsam war, weil der Käfer, als ich ihn nach längerer Suche endlich gefunden hatte, kühl, wenn nicht kalt in meiner Hand auf dem Rücken lag. Ich war zunächst in die Küche gewandert, um nach meinem Bügeleisen zu sehen, dann öffnete ich die Wohnungstür, inspizierte meinen Kühlschrank, prüfte den Zustand meiner Nase, und kehrte an den Schreibtisch zurück. Jetzt hatte sich der Käfer durch Bewegung verdächtig gemacht. Da war nun also ein Käfer sichtbar geworden unter einer Lupe, und dieser Käfer, der nach heißem Zinn roch, bitter, und süß nach Maschinenöl, trug anstatt eines Panzers Menschenhaut. Als ich ihn mit einem Finger vom Tisch in meine Handfläche schob, öffnete er seine Flügel und kämpfte, um Luft unter seine Tragflächen zu bekommen. Alle Mühe war vergeblich, der Käfer war zu schwer oder doch zu müde, von einer längeren Reise, weiß Gott woher. — Weit nach Mitternacht, schwüle Luft, sitze vor dem Schreibtisch, betrachte den Käfer und der Käfer betrachtet mich. Der Eindruck, wir beide sind nicht sicher, ob wir nicht vielleicht, der eine dem anderen, ein Alptraum sind.
geraldine : limonade
~ : geraldine
to : louis
subject : LIMONADE
Lieber Mr. Louis, stellen Sie sich vor, heute habe ich einen Vogel gefüttert. Ich lag, wie jeden Tag seit wir New York verlassen haben, auf einer Liege an Deck und habe geschlafen. Als ich meine Augen öffnete, saß eine Möwe vor mir auf der Reling. Ich habe mich vorsichtig aufgesetzt und etwas Brot in die Luft geworfen und die Möwe hat das Brot gefangen und ist sofort weitergeflogen. Seit gestern haben wir viel Wind. Papa kommt immer wieder vorbei und schaut nach mir, aber es geht ihm nicht gut, ihm ist übel und auch Mama liegt im Bett, weil sie beide seekrank sind. Ich glaube, sie wissen jetzt wie ich mich fühle, immerzu fühle. Sie sehen beide gar nicht gut aus. Mir aber scheinen die hohen Wellen nichts auszumachen, ich sitze oder liege und schaue auf das Meer und hoffe, dass die Sonne nicht untergehen wird, bis wir in Europa sein werden. Die Möwen sind still hier draußen. Vielleicht wird ihr Schreien vom Wind fort getragen. Ein wirklich kräftiger und kühler Wind, und der junge Kellner, der Stewart, wie man hier sagt, muss sich gegen ihn stemmen, wenn er über das Deck zu mir kommt. Er kennt meinen Namen. Er sagt, Mrs. Geraldine, ich soll mich um Sie kümmern, wollen Sie eine Limonade. Ja, und immer will ich sofort eine Limonade. Sie ist blau, Mr. Louis, noch nie zuvor habe ich blaue Limonade getrunken, sehr süße blaue Limonade, die nach Lakritze schmeckt. Ich sehe gerne seinen Händen zu, wie er die Flasche für mich öffnet, weil ich doch kaum Kraft habe die Flasche selbst zu öffnen. Er hat mir gestern gesagt, Mr. Louis, dass ich sehr schön sei, fast durchsichtig, und dass er sich sehr gerne mit mir unterhalten würde. Sein Blick ist traurig, ich kann nicht sagen, warum er so traurig ist, wenn er mich anschaut. Manchmal schlägt er die Augen nieder, wenn ich ihn ansehe. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht seine Gedanken vor mir verbergen möchte. Ich weiß jetzt, dass ich nicht schreien werde, wenn er mich bald einmal küssen wird. Ich bin so müde, Mr. Louis, ich bin 20 Jahre alt, aber ich bin unendlich müde. Höre auf zu schreiben für heute: Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 24.6.2008
22.15 MESZ
revolver
india : 3.26 — Das Seltsame an den Nachtbüchern ist, dass man sie nur nachts und nur unter freiem Himmel lesen kann. Ich war deshalb bis kurz nach Zwei im Palmengarten am See und hörte den Spinnen zu beim Seilen, und lauschte den Panthern bei leiser Fresserei und anderen angenehmen Dingen, die man so macht, wenn man bemerkt, dass man ein Panther geworden ist in einer Vorsommernacht. Dann ging ich nach Hause und legte das Nachtbuch, das von einer Chinesin erzählt, die sich wundert, dass sie eine Chinesin ist, ins Regal zu anderen Nachtbüchern zurück. Sitze jetzt auf dem Sofa und die Fenster sind geöffnet und ein Falter flattert in einer Lampionlampe herum und notiere eine kleine wilde Geschichte. Diese Geschichte geht so: Irgendwann, sagen wir im Sommer, sagen wir morgens. Ein Spieler steht am Fenster. Er schaut in Richtung des gegenüberliegenden Hauses. Die Sicht ist gut. Kein Nebel. Kein Dunst. Ein oder zwei Vögel, Laternenhöhe, auf und ab. Jetzt richtet der Spieler den Revolver gegen die Schläfe. Alle Kammern der Waffe sind munitioniert. Der Spieler wartet ab. Glühender Kopf. Film zurück, mal bunt, mal nicht. Brillanter Streifen. Verlässt ein Mann das Haus, schießt sich der Spieler eine Kugel in den Kopf. Game over. Ende. Fin. Verlässt eine Frau das Haus, hat der Spieler einen Tag gewonnen. Es ist dann ein Tag leichten Genießens, ein Tag aber auch der Unruhe sobald Abend geworden ist. Jetzt schläft der Spieler. Dann wacht der Spieler auf. Wieder steht er am Fenster, wieder ist früher Morgen und wieder ist Sommer. Die Maschine lässt sich nicht anhalten, auch die Zeit nicht, — Revolver gegen Stirn. Entweicht dem Haus eine Katze, wird eine Kugel entnommen. Jede weitere Katze entnimmt der Revolvertrommel eine weitere Kugel. Sechs Katzen bedeuten eine Frau. Frauen und Katzen bringen Glück. Natürlich lässt sich das unendlich verfeinern. Eine rote Katze erzwingt eine zweite Aufführung noch an demselben Morgen. Kommt ein Nashorn aus dem Haus, hört der Spieler für immer auf zu spielen. Ein Nashorn mit drei Hörnern und der Spieler wird Priester. Wir sehen, die Bedingungen des Spielers ein Priester zu werden, sind eindeutig definiert. Kein Entkommen. Kein Ausweg. Ein Liebhaber konzentrierten Lichts. Cinema Paradiso.
bagdad
nordpol : 0.05 — In Bagdad spricht ein Reporter vor einer Fernsehkamera. Menschen, Passanten, schauen ihm über die Schulter, sie machen Victoryhandzeichen in Richtung der Kamera und lachen. Im Hintergrund kreuzt ein Cruise Missile eine Straße. Der Flugkörper kommt von rechts und fliegt nach links, er fliegt genau in Ampelhöhe und gerade so schnell, dass er nicht zu Boden fällt. Er fliegt in einer Art und Weise, als würde er sich an Verkehrsregeln halten. Kurze Zeit später eine Detonation, kaum hörbar, aber gut sichtbar, eine Erschütterung des Bodens, eine Erschütterung der Luft, eine Erschütterung, die auf den Körper des Kameramannes einwirkt, die sich durch den Körper des Kameramannes fortsetzt bis zur Kamera hin und die Stabilität des Bildes beeinflusst. Auch Horizont und Himmel sind erschüttert, wie die Menschen und ihre Victoryzeichen. stop. Würden SIE eine 500-Pfund-Bombe nach einem Menschen werfen?
gedankenechse
sierra : 0.25 — Seit Jahren, mit Vergnügen, beobachte ich einen Gedanken, der sich nicht bewegt, kein Buchstabenzeichen des Gedankens rührt sich von der Stelle. Manchmal denke ich, der Gedanke bewegt sich heimlich, während ich andere Gedanken denke