nordpol : 0.01 — Irgendwann einmal würde ich gerne folgende Meldung notieren: Zoologischer Garten auf Grönland jenseits des Polarkreises eröffnet. Selbstverständlich wird es sich bei diesem arktischen Tierpark nicht um eine gewöhnliche Versammlung lebender Tiere handeln. Im Park dort, frei oder in Gehegen, werden vielmehr leuchtende Tiere wohnen, schimmernde, oder in allen wunderbaren Farben, die man sich auszudenken vermag, glühende Wesen, ihre Zellen nämlich werden glühen. So werden leuchtende Antilopen unter der Kuppel des Afrikahauses über künstliche Steppengräser springen, und leuchtende Menschenaffen durch das Geäst der Nachtbäume schwingen. Und da werden leuchtende Vögel sein und ebenso leuchtende Elefanten in ihren riesenhaften Volieren. Auch die Eisbären werden leuchten und die Seehunde und Robben und Schneefüchse. Es ist deshalb sehr gut, dass in der Polarnacht immerzu Dunkel ist. Der zoologische Garten wird rund um die Uhr geöffnet sein, warum nicht! — stop
Aus der Wörtersammlung: eisbären
am nachttisch
india : 3.02 — Ich träumte von Winterfliegen. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich, vor Jahren einmal über Winterfliegen nachgedacht zu haben. Ich notierte Folgendes: Die Gattung der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, die sie mit ihren Fliegenfüßen persönlich in den Schnee eingraben. Vielleicht, das ist möglich, sind Winterfliegen von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen wärmenden Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen, dachte ich, werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton, das aus windgebückten Wäldern angeflogen kommt, von Moosen, Birkenpollen, vom Kotsand nordischer Füchse. Ich stellte mir vor, sie sind weiß, so weiß, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts im Sommer aus einem Apfel steigen. – Ein ruhiger Tag, Augen zu, warm, Sonne. — Abends sitze ich in der Küche am Tisch. Ich öffne eine Schreibmaschine, die ich vor drei Jahren aus dem aktiven Schreibmaschinenleben in mein Schreibmaschinenmuseum transferierte, um nachzusehen, ob ich sie vielleicht noch einmal in Gang setzen könnte. Sehr kleine Schrauben türmen sich zu einem Berg, es riecht nach Metall, nach Zinn, wie in der Kindheit, wenn ich meine Nase an Radiogeräte drückte. An der Wand in nächster Nähe hockt Esmeralda, sie scheint mich zu beobachten oder das Innere der Schreibmaschine. Aus dem Nebenzimmer dringen noch immer Kampfgeräusche, Schüsse von Gewehren, helle Töne, als würden Kieselsteine aneinander schlagen. Auch große Kaliber sind zu vernehmen, deren genaue Bezeichnungen ich nicht kenne, Mörser vielleicht, Panzerkanonen, Maschinenwaffen. Ein Mann, ich möchte seinen Decknamen an dieser Stelle nicht verzeichnen, sammelt Filme in der digitalen Sphäre, die er zu endlosen Ketten knüpft, Szenen aus dem syrischen Bürgerkrieg, zuletzt von dem Kampf um Kobane. Personen stehen auf einer Straße, sie feuern auf Häuser, plötzlich fallen sie um. Ein junger Mann hüpft vor dem Körper einer jungen Frau, die auf dem Rücken liegt, ein Teil ihres Gesichtes fehlt. Der junge Mann preist Gott, er stellt seinen Stiefel auf die Brust der jungen Frau, die vermutlich, nein sicher, gegen ihn kämpfte. Bärtige Männer eilen gebückt über Felder, einem der Männer fliegt ein Arm davon. — stop
schneebiene
tango : 6.45 — In Tageslicht aus nächster Nähe beobachtet, handelt es sich bei jener Maschine, die gestern Abend bei leichtem Schneefall noch auf der 5th Avenue südwärts durch die Luft reiste, um eine Biene, die auch bei Nacht fliegen kann, weil ihre Augen so künstlich sind wie ihr gesamter Flugapparat, ihre Wirbelsäule, ihre Beine, ihre Fühler, alles das ist von äußerst leichtem Metall gewirkt, 528 Schräubchen halten das komplizierte Wesen zusammen, das niemals größer sein wird als ein wirkliches, ein aus organischen Einzelteilen hergestelltes Insekt. Genau genommen ist diese Biene ein sehr kleiner Hubschrauber, wendig, leise, ein Helikopter, der sich im Kostüm einer Biene befindet, ein spähendes Subjekt, eine Drohne, die man vielleicht einmal bewaffnen könnte, um sie einzusetzen für gute oder weniger gute Zwecke. Gestern Abend beobachtete ich nun mit höchstem Interesse wie man der kleinen Maschine kurz vor ihrem Start ein weiteres Gewand überstreifte, das an einen hellen Pelz erinnerte, so dass ich lachen musste, weil ich für einen Moment glaubte, man habe die äußere Beschaffenheit einer Biene mit der Idee eines Eisbären gekreuzt. Kaum aus dem Fenster des Erfinders geflogen, war die weißgefiederte Biene schon im dichten Schneetreiben verschwunden. Nun konnten wir glücklich durch die Augen der Unsichtbaren die Winterwelt betrachten, wir sahen uns selbst in einer Verfolgung und wir begegneten Menschen, riesenhaften Gesichtern, die feucht waren, Regenschirmen, dem Licht der Fußgängerampeln und Dampfwolken, die aus dem Boden pafften, als wären sie der Atem unsichtbarer, unter dem Asphalt verborgener Riesen. stop. Dämmerung. stop Es ist Freitag. — Guten Morgen! — stop
winterfliegen
charlie : 6.37 — Regen fällt. Soviel Regen fällt, dass die Nachtluft hell wird vom Wasser. Vielleicht war es diese Helle, die mich an die Frage nach der Existenz der Winterfliegen erinnerte. Vor einigen Tagen hatte ich mich auf die Suche nach dieser Spezies begeben. Nicht in der wirklichen, aber in der Welt der Zahlen, welche Zeichen, Bilder, Filme in Lichtgeschwindigkeit durch den Raum transportieren. Ich suchte nach Winterfliegen vornehmlich in den Magazinen digitaler Bibliotheken, aber ich habe keine Fliegensorte gefunden, die meinen Vorstellungen einer polaren Fliegengattung entsprochen haben würde, denn die Art der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, stelle ich mir vor, die sie mit ihren Fliegenfüßen höchstpersönlich in den Schnee gegraben haben. Vielleicht sind sie von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton der Luft, das aus windgebückten Wäldern angeflogen kommt, Moose, Birkenpollen, Kotsand von nordischen Füchsen. Ich stelle mir vor, dass diese Fliegen so weiß sind, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, aber stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts in meiner Küche im Sommer aus einem Apfel steigen. — stop