foxtrott : 3.02 – Alisa, wie sie vor Jahren in Holzschuhen durch das Treppenhaus hüpft, wie sie Rosenblüten in meinen Briefkasten wirft, wenn schon nicht telefonieren, dann eben so. Ihre Wildheit. Ihre Lust auf Fotoapparate. Ihr blaues Auge, weil sie eine Fotografie zu Hause zeigte, die ich ahnungslos aufgenommen hatte, Alisa, die Kastanien sammelt an einer nahen Straßenbahnhaltestelle, nie wieder Rosenblüten. Wie wir uns einmal auf die Suche machen, Alisas verzweifelte Mutter, mit Kopftuch, und ich, ohne Kopftuch. Sie kann nicht mit dem Mund zu mir sprechen, es fehlen die Wörter, also spricht sie mit den Augen. Mit angewinkelten Beinen sitzt Alisa in einer Turnhalle und sieht riesigen Männern zu, die Basketball spielen. Sie hat die Zeit vergessen, wie alle Kinder die Zeit vergessen. Da ist gerade noch ein Bild in meinem Kopf, ein todmüder marokkanischer Mann, Alisas Vater, mit seinem heruntergekommenen roten Auto, wie er an einem späten Freitagabend gebückt und staubig die Straße überquert. Plötzlich waren sie nicht mehr da, Alisa, ihre Mutter, der Vater, das rote Auto. — stop
Aus der Wörtersammlung: freitagabend
ein pinguin
india : 6.38 — Ludwig, ich traf ihn am Freitagabend während eines Spaziergangs zufällig unten am Fluss, erzählte von einem Experiment, das er vor wenigen Wochen im April gestartet haben will. Es gehe, sagte Ludwig, um den Versuch, Luftpostbriefe nach Aleppo zu verschicken. Weder habe er selbst Freunde noch Familienangehörige in Aleppo, trotzdem habe er ein gutes Dutzend Briefe in die zerstörte Stadt geschickt, zufällige Straßen, zufällige Häuser, zufällige Namen. Eine Freundin habe ihm bei seiner Arbeit geholfen, Lucille, die die arabische Sprache mühelos sprechen und schreiben könne. 5 seiner Briefe seien nach wenigen Tagen bereits zurückgekommen, sie waren je mit einem handschriftlichen Vermerk in deutscher Sprache versehen: Zurzeit nicht zustellbar. 12 weitere Briefe seien noch verschollen, 1 Brief war jedoch zu ihm zurückgekehrt. Der Brief schien tatsächlich bis in die Stadt Aleppo gekommen zu sein, ein Stempel in französischer Sprache begründete die Rücksendung des Briefes: Adresse insuffisante. Diese Nachricht hatte Ludwig erwartet, nicht aber, dass auf dem Briefumschlag selbst eine Nachricht in der Gestalt eines handgezeichneten Pinguins hinterlassen worden war. — stop
rom : taschen
marimba : 22.05 — Man wird vielleicht nicht sofort bemerken, dass man sich in einem Jagdgeschehen befindet. Nein, von Jägern ist auf der Piazza Navona zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zauberhafter Platz, länglich in der Form, drei Brunnen, eine Kirche, und Cafés, eines nach dem anderen, kleinere Läden, in welchen wir Pasta in allen möglichen Formen und Farben entdecken, Weine, Schinken, Käse. Am Abend fliegen beleuchtete Propeller durch die Luft. Maler, welche entsetzliche Bilder produzieren, erwarten amerikanische Kunden, sie sitzen auf Klappstühlen im Licht ihrer Glühlampen, die sie mittels Batterien mit Strom versorgen. Straßenmusikanten sind da noch, mit ihren Bandoneons, Geigen, Kontrabässen, und Angestellte der Müllentsorgung, Frauen, jüngere Frauen in weinroten Overalls, ihre Hände sind gepflegt, ihre Fingernägel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Richtung jener schwarzhäutigen jungen Männer blickt, die vor einem der Brunnen den Versuch unternehmen, ihre Arbeit zu verrichten, wird es ernst. Sie haben Handtaschen in allen möglichen Formen auf den Boden vor sich abgestellt, je zwei Reihen, Behälter von Prada, Picard, Chanel, Griffe derart ausgerichtet, dass man sie mit je einer Handbewegung allesamt sofort ergreifen und flüchten kann. Eine typische Geste, sind doch jene armselig wirkenden Händler der Luxustaschen mehr oder weniger flüchtende Wesen. Kaum haben sie ihre Anordnung im Flanierbezirk möglicher Kunden sorgfältigst aufgebaut, raffen sie ihre Ware wieder zusammen und rasen in eine der Seitenstraßen davon, um nach wenigen Minuten wieder hervorzukommen, wie in einem Spiel, wie aufgezogen. Am ersten Abend meiner Beobachtungen auf der Piazza Navona, waren nur Flüchtende zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigenartige Situation, aber schon am zweiten Abend war eine jagende Gestalt vor meinen Augen in Erscheinung getreten. Es handelte sich um einen Hauptmann der Carabinieri, um einen Herrn präzise mit äußerst aufrechtem Gang. Er trug weiße Streifen an seinen Hosen, und eine Uniformjacke, tadellos, und eine Mütze, sehr amtlich, er war eine wirkliche Zierde, ein Staatsmann, wie er so über den Platz schritt, hinter den flüchtenden afrikanischen Männer her, ausdauernd, lauernd, ein Ansitzjäger, möchte ich sagen, einer, der an Straßenecken wartet, um die Wiederkehr der schwarzen Händler zu unterbinden oder um einen von ihnen einzufangen und an Ort und Stelle unverzüglich zu verspeisen. Stop. Freitagabend. stop. Eine Biene überquert zur Unzeit den Platz in südliche Richtung, als wär sie ein Zugvogel. — stop
kairobildschirm
sierra : 7.12 — Acht Uhr, Freitagabend. stop. Am Schreibtisch. stop. Von Livebildern des Nachrichtensenders Al Jazeera her sind Gewehrschüsse zu hören. Seit Stunden bereits bewegen sich diese Bilder von der Größe einer Postkarte auf dem Schirm meiner Computermaschine. Jugendliche Menschen flüchten vor Wolken von Pfeffergas. Betende Männer knien vor einer Polizeikette, schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Hemden, schwarze Helme. Gebäude glühen in der aufkommenden Dunkelheit. Ein Mannschaftswagen der Polizei schlingert brennend durch eine Menschenmenge, überrollt Personen, die sich in den Weg stellen. Schlägertrupps in ziviler Kleidung verprügeln Frauen, verprügeln Männer. Kolonnen gepanzerter Militärfahrzeuge rücken in das Zentrum Kairos vor, sie werden von jubelnden Bürgern der Stadt begrüßt. Man spricht davon, das National Museum werde von einem Schild menschlicher Körper geschützt. Gasgranaten segeln über einen Platz, schreiben Spuren hellgrauen Rauchs in die Luft. Auf den Straßen der Stadt Suez sollen fünf Menschen ihr Leben verloren haben. In Washington erklärt ein Sprecher der US-Regierung, die Situation sei fluid. In Kairo überreichen junge Menschen einer Reporterin den Körper einer Polizeitränengasgranate, auf dem sie den Schriftzug Made in USA entdeckten. stop. stop. Was ist das für eine Wirklichkeit, die mich in Bildern von Postkartengröße erreicht? Wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Was geschieht mit mir, was mit der Wirklichkeit der Bilder, sobald ich meinen Computerbildschirm ausschalte? — stop