echo : 22.58 — Eine Stadt der Wassermenschen. Es ist Abend. Sommer. Vor dem zentralen Bahnhof stehen tausende Bürger plaudernd, rauchend, scherzend bis zu den Hälsen in den Fluten. Wasser weitverbreitet. In Kaffeehäusern, Wohnungen, Bürogebäuden. Die Körper der Menschen sind leicht geworden, Körper, die sich zu strecken scheinen. Auch schwimmende Tauben. Und Katzen wie Bojen auf dem Wasser treibend, lauernd. — Ob es vielleicht einmal sinnvoll sein könnte, Menschen derart zu impfen, dass sich ihre Haut unverzüglich in die Haut der Regenbogenforellen verwandelte? — stop
Aus der Wörtersammlung: herz
PRÄPARIERSAAL : kreide
delta : 22.56 — Gewitterhimmel. Abend. Moskitofische segeln von Zimmer zu Zimmer. Seit zwei Stunden Julian, seine tiefe Tonbandstimme. Seltsam ist, dass ich mich an Julians Gesicht nicht erinnern kann. Zeit und Ort der Tonbandaufnahme, ein kleines Café in Schwabing zu München, sind hingegen sofort erreichbar. Samstag. Winter. Sobald sich die Tür des Cafés öffnete, wehte Schneewind herein. > Wir haben zunächst das Präparat auf dem Tisch herumgedreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Präparat nicht alleine herumdrehen. Das Präparat ist zu schwer, um von einer Person auf einem schmalen Tisch herumgedreht werden zu können. Wir haben das Präparat gemeinsam bewegt. Ein intensiver Moment. Wir schwitzen. Wir halten den Atem an. Das Präparat ist feucht. Eine Hand hält den feuchten Kopf des Präparates, eine weitere Hand einen feuchten Arm, Hände halten feuchte, kühle Schenkel, einen feuchten, kühlen Rücken, einen feuchten, kühlen Nacken. Wir haben noch nicht an Tiefe gewonnen, wir haben noch keinen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ersten Tag. Wir haben noch nicht darüber geschlafen. Ich sehe, wie ich ein Stück Kreide in die Hand nehme. Ich nehme dieses Stück Kreide in die rechte Hand. Mit der linken Hand taste ich über den Rücken meines Präparates. Ich ertaste Untiefen, Knochen, feste Strukturen, die meinen Fingern Orientierung bieten. Sobald ich mit der linken Hand eine Untiefe, einen Knochenpunkt ertastet habe, ziehe ich mit der rechten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Kreide den Körper berühre, gibt der Körper nach. Mein Finger ist ein Werkzeug des Tastens, die Kreide ein Werkzeug des Beschreibens. Ich zeichne dem Präparat die Form eines Herzens auf die Brust. Ich zeichne einen Magen auf den Bauch. Ich zeichne in die Tiefe eine Niere links, eine Niere rechts. Ich habe die Vermutung eines Herzens, ich habe die Vermutung eines Magens, ich habe die Vermutung einer Niere da und einer Niere dort. Das Präparat ist ohne Geräusch. Es ist merkwürdig, alles scheint schon sehr lange her zu sein, und doch habe ich den Eindruck, dass kaum Zeit vergangen ist. Das Präparat auf dem Tisch, dieser Mensch, ist fast verschwunden. — stop
PRÄPARIERSAAL : ein helles herz
bamako : 2.58 – Beobachtete im Präpariersaal kurz vor acht Uhr morgens eine Assistentin, indem sie sich mittels eines Skalpells und einer Pinzette in die Tiefe eines Lungenflügels vorarbeitete. Feine, zupfende Handbewegungen einer Uhrmacherin. Ein metallener Ton, sobald die Assistentin etwas Gewebe am Rand einer Schale von ihren Werkzeugen streifte. Wortlos stand die junge Frau am Tisch, scheinbar ohne sich an meiner Gegenwart zu stören. Nach einigen Minuten dann schob sie das Lungenpräparat zur Seite und wendete sich einem Herzen zu, das in unmittelbarer Nähe eines weiteren Lungenflügels auf einem Blech schaukelte, als sei es noch von eigener Kraft in Bewegung. Das war ein kräftiges Herz gewesen, ich erinnere mich noch gut, über das Gewicht in meinen Händen gestaunt zu haben. Ich hatte das Präparat vom Tisch gehoben und hielt es in der Schale meiner Hände fest, um die Arbeit der Assistentin zu erleichtern. Das Herz ist schwer, sagte ich. Ein mächtiger Muskel, antwortete die Frau, ja, ein mächtiges Herz, fest und dunkel, das Herz eines Läufers. Oder ein Künstlerherz vielleicht. Schweigen jetzt. Sie trommelte mit ihren Werkzeugen auf den hölzernen Rand des Tisches. Meines wird wohl etwas kleiner sein, setzte ich vorsichtig hinzu, ein helles Herz, das Herz eines Vogels, sagen wir. Du kannst also fliegen, bemerkte die junge Frau und lachte, das ist eine gute Geschichte! — Wie sie für den Bruchteil einer Sekunde ihr Gehirn mit einem Lid bedeckte. Fin. – stop
herzgegend
echo : 0.05 — Bemerkenswert, dass Menschen, sobald sie an ihr Herz denken, seine anatomische Gegend sofort berühren wollen. — stop
herzgeschichte
hibiskus : 0.05 — Zu einer Zeit, als meine Mutter noch für mich atmete, bewegte sich zum ersten Mal mein Herz. Bald wurde ich geboren und lernte zu schweigen, zu sitzen, zu stehen und meine Schuhe zu binden, mit Kreide auf eine Tafel zu schreiben und zu lesen, und während ich diese feinen Dinge lernte, schlug immerfort mein Herz. Auch am Tag, als ich sieben Jahre alt wurde, schlug mein Herz so unbemerkt, wie an allen anderen Tagen zuvor, und ich freute mich, weil ich an diesem Tag ein Schachspiel überreicht bekam. Der kleine Junge, der mir dieses Schachspiel schenkte, war nicht zu meinem Fest für Freunde gekommen, stattdessen kam seine Mutter. Sie war blass, nein durchsichtig, sie erzählte, ihr Sohn könne nicht kommen, weil sein Herz sehr schwach geworden sei. Kurze Zeit später starb der Junge, der beinahe mein Freund geworden wäre, an dieser Nachricht. An jenem Abend, am Abend meines kleinen Festes, lebte der kleine Junge noch, und ich dachte an ihn und überlegte, was die Worte ein schwaches Herz vielleicht bedeuteten. Ich lag also auf dem Bett und hatte eine Hand auf die Brust gelegt und spürte den Bewegungen meines Herzens nach. Mit geschlossenen Augen, ich erinnere mich genau, konnte ich Erschütterungen fühlen, eine seltsame Erfahrung. Sehr lange lag ich so rücklings auf dem Bett und dachte, dass mein Herz ein starkes Herz zu sein schien, aber als ich meine Hand zur Seite legte, war mir für einen kurzen Moment, als ob mein Herz stehen geblieben war, weil ich seine Bewegungen nicht länger spüren konnte. Als ich erwachte, wunderte ich mich, dass ich noch immer lebte, obwohl ich mein Herz vergessen hatte während der Nacht. Und jetzt, da ich diese kleine Geschichte notiere, denke ich, dass ich damals vielleicht, an jenem Abend genau, damit begonnen habe, mich zu wundern. Auch heute noch, um viele Jahre älter, wundere ich mich über mein Herz, oder ich wundere mich über Straßenbahnen, dass sie existieren. Ja, sehr gerne wundere ich mich über Straßenbahnen.
PRÄPARIERSAAL : passagenbilder
ginkgo : 20.55 — In der Passage von Wachsein zu Schlaf. Als würde dort jeder Schutz verloren gehen, Nachbilder, leblose Gesichter des Präpariersaales, geschwollene Hände, aufgefaltete Lederhaut, getrocknete Herzen, zerbrochene Gehirne, Milchglasaugen ohne Blick. Der Eindruck von Nichtwirklichkeit, obwohl ich ahne, dass ich noch nicht träume. — stop
falterherzgeräusch
echo : 7.08 — Fünf Stunden habe ich in der vergangenen Nacht vergeblich nach einer Tonaufnahme in der Elektrosphäre gesucht, die das Geräusch eines schlagenden Falterherzens enthält. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 1458, Luftfahrt — 2011, Automobile — 32569 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 6, 19. Jahrhundert – 56, 20. Jahrhundert – 582 , 21. Jahrhundert — 32 ], physical memories [ bespielt — 122, gelöscht : 88 ], Lichtfangmaschinen [ Hasselblad 503 CW : 1 ], Öle [ 0.3 Tonnen ], strahlende Fische [ 2.98 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 5, Kniegelenke – 8, Hüftkugeln – 25, Brillen – 4582 ], Schuhe [ Größen 28 – 37 : 987, Größen 38 — 45 : 458 ], Kühlschränke [ 57 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 2, mit Taucher – 68 ], Engelszungen [ 32 ] | stop |
moskitoeintagsfliegen no.2
sierra : 5.24 — Bald einmal, ich wiederhole mich, menschliche Wesen von 20000 Jahren Lebenserwartung gestalten, Hüter der Plutoniumwerke, memorierende Beobachter, flüsternde Sprecher durch Räume der Zeit, die bisher nicht vorstellbar sind, weil wir sie weder fühlen noch träumen, weil unsere Herzen durch die Atomzeit rasend schlagen wie die Herzen der Moskitoeintagsfliegen. — stop
motel chronicles
~ : louis
to : Mr. Shepard
subject : MOTEL CHRONICLES
Eine Depesche, verehrter Mr. Shepard, an diesem frühen Morgen in Europa. Bei Ihnen da drüben in Amerika wirds gerade dunkel werden. Notiere begeistert, dass ich Ihre Motel Chronicles geöffnet habe. Obwohl äußerst müde gewesen, las ich eine Halbstunde voran, ohne eine Pause einzulegen. Ihre präzise Sprache, die leicht ist wie Bimsstein, vulkanisch, von Zeithöhlen durchwachsen. Ob es vielleicht möglich ist, ihre Geschichten zu nehmen, um sie in eines der Bücher zu übertragen, die ich erfinde für Nachtpersonen, oder eine Zeile nur wie diese, da das Glück fällt auf die linke Seite des Zufalls? Vielleicht werden Sie fragen, welche Eigenschaften ein Nachtbuch von Tagebüchern unterscheiden. Nun, ein Nachtbuch gebietet über wanderndes Licht in seinen Zeichen, welches müde Leser kaum merklich weiter lockt. Sobald sich nämlich studierende Augen schließen, leuchtet das Licht im nächsten Zeichen, im nächsten Wort voraus, sodass man nicht aufhören möchte, diesem Licht durch die Zeilen zu folgen. Eine Verführung, das könnte sein, ein Appell des Buches, das in den Buchstabensensoren, das Augenlicht der Lesenden zu spüren vermag. Eines dieser Nachtbücher könnte Ihres werden, lieber Mr. Shepard, Motel Chronicles, unsichtbare Zeichen des Tages, Licht in der Nacht. Erwarte Ihre Antwort oder Fragen mit Freude, wie auch immer sie sich für mich darstellen werden. Mit herzlichen Grüßen — Ihr Louis
gesendet am
17.02.2011
4.08 MEZ
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