Aus der Wörtersammlung: anatomie

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PRÄPARIERSAAL : ein helles herz

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bamako : 2.58 – Beob­ach­te­te im Prä­pa­rier­saal kurz vor acht Uhr mor­gens eine Assis­ten­tin, indem sie sich mit­tels eines Skal­pells und einer Pin­zet­te in die Tie­fe eines Lun­gen­flü­gels vor­ar­bei­te­te. Fei­ne, zup­fen­de Hand­be­we­gun­gen einer Uhr­ma­che­rin. Ein metal­le­ner Ton, sobald die Assis­ten­tin etwas Gewe­be am Rand einer Scha­le von ihren Werk­zeu­gen streif­te. Wort­los stand die jun­ge Frau am Tisch, schein­bar ohne sich an mei­ner Gegen­wart zu stö­ren. Nach eini­gen Minu­ten dann schob sie das Lun­gen­prä­pa­rat zur Sei­te und wen­de­te sich einem Her­zen zu, das in unmit­tel­ba­rer Nähe eines wei­te­ren Lun­gen­flü­gels auf einem Blech schau­kel­te, als sei es noch von eige­ner Kraft in Bewe­gung. Das war ein kräf­ti­ges Herz gewe­sen, ich erin­ne­re mich noch gut, über das Gewicht in mei­nen Hän­den gestaunt zu haben. Ich hat­te das Prä­pa­rat vom Tisch geho­ben und hielt es in der Scha­le mei­ner Hän­de fest, um die Arbeit der Assis­ten­tin zu erleich­tern. Das Herz ist schwer, sag­te ich. Ein mäch­ti­ger Mus­kel, ant­wor­te­te die Frau, ja, ein mäch­ti­ges Herz, fest und dun­kel, das Herz eines Läu­fers. Oder ein Künst­ler­herz viel­leicht. Schwei­gen jetzt. Sie trom­mel­te mit ihren Werk­zeu­gen auf den höl­zer­nen Rand des Tisches. Mei­nes wird wohl etwas klei­ner sein, setz­te ich vor­sich­tig hin­zu, ein hel­les Herz, das Herz eines Vogels, sagen wir. Du kannst also flie­gen, bemerk­te die jun­ge Frau und lach­te, das ist eine gute Geschich­te! — Wie sie für den Bruch­teil einer Sekun­de ihr Gehirn mit einem Lid bedeck­te.  Fin. – stop

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PRÄPARIERSAAL : ismene

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sier­ra : 18.02 — Abend. Die Fens­ter geöff­net, es reg­net, für einen Moment ist Herbst gewor­den. Höre ein Inter­view, das ich mit Isme­ne, einer Medi­zin­stu­den­tin, in Mün­chen führ­te. Sie erzählt mit ruhi­ger Stim­me fol­gen­de Geschich­te: > Wie wir ange­fan­gen haben? Ich erin­ne­re mich gut. Ich hat­te kaum geschla­fen. End­lich soll­te es los­ge­hen. Als ich dann im Prä­pa­rier­saal vor dem Tisch stand, war ich erst ein­mal irri­tiert vom Anblick des Leich­nams. Ich glau­be, alle mei­ne Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen waren irri­tiert gewe­sen, min­des­tens waren sie beein­druckt. Wenn man unsi­cher ist, schaut man nach, was die ande­ren tun. Und wenn die Bli­cke ein­an­der begeg­nen, lächelt man. Ich habe die­se ers­te Situa­ti­on vor dem Tisch als sehr authen­tisch emp­fun­den, als ehr­lich und unmit­tel­bar. Wir hat­ten nur unse­re Augen, unse­re Hän­de, also unse­ren Tast­sinn, ein Skal­pell und eine Pin­zet­te, um den Kör­per, der uns zur Ver­fü­gung gestellt war, zu unter­su­chen. Natür­lich arbei­te­ten wir auch mit unse­rem Gehör­sinn. Wir waren acht Leu­te an jedem der 52 Tische, und wir dis­ku­tier­ten, was wir gese­hen haben. An die­sem ers­ten Tag aber waren wir eher still gewe­sen. Ich glau­be, jeder von uns muss­te zunächst ein­mal mit sich selbst zurecht­kom­men. Das waren ja sehr kräf­ti­ge Ein­drü­cke. Ich habe mir, um mich vor dem schar­fen Geruch zu schüt­zen, ein Tuch in die Brust­ta­sche gesteckt, das ich in Euka­lyp­tus­öl getaucht hat­te. Und da war nun die­se alte Frau gewe­sen. Sie lag völ­lig unbe­klei­det auf dem Tisch vor uns. Ich habe gewusst, dass die­ser Moment kom­men wür­de, aber man kann sich auf den Augen­blick einer ers­ten Begeg­nung die­ser Art nicht wirk­lich vor­be­rei­ten. Viel­leicht hat­ten wir des­halb mit hoher, zupa­cken­der Geschwin­dig­keit die rote Decke und das wei­ße Tuch, die den Leich­nam vor Aus­trock­nung schüt­zen, ange­ho­ben, weil wir unse­rer Unsi­cher­heit Akti­vi­tät ent­ge­gen­set­zen woll­ten. Ich war sehr bewegt und ich war unru­hig und ich schäm­te mich für mei­nen sach­li­chen Blick, der das Gewicht der alten Dame schätz­te und ihre Grö­ße. Sie lag rück­lings auf dem Tisch. Ihre Bei­ne und Arme waren aus­ge­streckt. Wenn sie noch am Leben gewe­sen wäre, wür­de sie ver­mut­lich ver­sucht haben, sich zu schüt­zen. Sie hät­te ihre klei­nen, fla­chen Brüs­te mit Hän­den bedeckt und ihre Scham, und sie hät­te viel­leicht irgend­ei­ne abweh­ren­de Ges­te unter­nom­men. Ich sehe ihr Gesicht, ihre geschlos­se­nen Augen noch sehr genau vor mir. Ein fei­nes Gesicht. Das For­ma­lin hat­te ihr kaum zuge­setzt, an ihrem Kör­per war kei­ne wei­te­re Nar­be zu fin­den als ein Schnitt an der Innen­sei­te des lin­ken Ober­schen­kels, der von einer Kanü­le der Prä­pa­ra­to­ren ver­ur­sacht wor­den war. Und wenn ich jetzt sage, dass sie sehr echt aus­sah, sehr wirk­lich, ver­letz­lich, dann kom­me ich der Ursa­che mei­ner Irri­ta­ti­on viel­leicht näher. Ver­ste­hen Sie, die alte Dame war mir ähn­lich. Ich bemerk­te eine Frau, eine Frau, die nur durch ein wenig Zeit von mir getrennt war. Ich sah eine Per­son und ich fürch­te­te, sie in ihrer Ruhe zu stö­ren, und des­halb sprach ich lei­se. Auch mei­ne jun­gen Freun­de am Tisch spra­chen sehr lei­se, zurück­hal­tend, behut­sam. Ich sah, dass ihre Hän­de in den Latex­hand­schu­hen schwitz­ten und auch, dass sie ein wenig zit­ter­ten, wäh­rend sie arbei­te­ten. Die Hän­de der alten Dame wirk­ten, als hät­te sie zu lan­ge geba­det. Das waren sehr fei­ne Hän­de. Sie hat­te zuletzt noch ihre Fin­ger­nä­gel bemalt in einem hel­len Rot. Sie hat­te sich noch geschmückt. Sie woll­te schön sein! Immer­zu muss­te ich ihre Hän­de betrach­ten. — stop

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fotografieren

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echo : 0.52 — Die­ses klei­ne Stück hier, zur Voll­mond­nacht, han­delt von einer Frau, die mir vor weni­gen Stun­den nach lan­ger Zeit der Abwe­sen­heit wie­der begeg­net ist, weil ich den sil­ber­grau­en Mond am wol­ken­lo­sen Abend­him­mel bemerkt hat­te, und aus die­sem hei­te­ren Luft­raum her­aus, war sie dann plötz­lich zu mir her­ein­ge­fal­len, selbst ihre Stim­me, eine außer­or­dent­lich lei­se Stim­me, ist nun so gegen­wär­tig als wäre kaum Zeit ver­gan­gen seit unse­rer Unter­hal­tung im Prä­pa­rier­saal der Mün­che­ner Ana­to­mie. Ich hät­te sie damals bei­na­he über­se­hen, eine klei­ne Gestalt, die prä­pa­rie­rend auf einem Sche­mel knie­te und merk­wür­di­ge Bewe­gun­gen mit den Augen mach­te. Sie betrach­te­te den Kör­per vor sich auf dem Tisch mit einem ruhi­gen, mit einem fes­ten Blick für je eini­ge Sekun­den, dann schloss sie die Augen für etwa die­sel­be Zeit, die sie geöff­net gewe­sen waren, und so wie­der­hol­te sich das Stun­de um Stun­de. Ein­mal setz­te ich mich neben sie an den Tisch und erzähl­te, dass ich ihre Augen, ihren Blick beob­ach­tet haben wür­de und den Ein­druck gewon­nen, sie mache Bewe­gun­gen mit ihren Augen, die der Lin­sen­be­we­gung eines Foto­ap­pa­ra­tes ähn­lich sei­en. Rich­tig, ant­wor­te­te die Frau, ich schlie­ße mei­ne Augen und schaue mir im Dun­keln an, was ich gespei­chert habe. — Eine selt­sa­me Stim­me. Sehr hell. Und scheu. Ein Zit­tern. Wie durch einen Kamm geblasen.
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regenschirmtiere vol.2

9

tan­go : 22.28 — Seit eini­gen Tagen den­ke ich, sobald ich lese, begeis­tert an Neu­ro­ne, Syn­ap­sen, Axo­ne, weil ich hör­te, dass ich mit­tels Gedan­ken, die Ana­to­mie mei­nes Gehirns zu gestal­ten ver­mag. Vor­hin, zum Bei­spiel, ich folg­te der Ankunft eines Schif­fes in New York im Jah­re 1867, über­leg­te ich, was nun eigent­lich geschieht in die­sem Moment der Lek­tü­re dort oben hin­ter mei­nen lesen­den Augen, ob man ver­zeich­nen könn­te, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wie­der auf­ge­ru­fen wird, fri­sche Fäd­chen gezo­gen wer­den, indem sich das Wort nach und nach mit einer unheim­li­chen Geschich­te ver­bin­det. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schla­fend, Stun­de um Stun­de, Geräu­sche fal­len­den Was­sers ver­neh­me? In der ver­gan­ge­nen Nacht jeden­falls habe ich wie­der ein­mal von Regen­schirm­tie­ren geträumt, sie schei­nen sich fest ein­ge­schrie­ben zu haben in mei­nen Kopf, viel­leicht des­halb, weil ich sie schon ein­mal nacht­wärts gedacht und einen klei­nen Text notiert hat­te, der wie­der­um in mei­nem Gehirn zu einem blei­ben­den Schat­ten gewor­den ist. Natür­lich besuch­te ich mei­nen Schat­ten­text und erkann­te ihn wie­der. Trotz­dem das Gefühl, Gedan­ken einer fer­nen Per­son wahr­ge­nom­men zu haben. Die Geschich­te geht so: Von Regen­schirm­tie­ren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Was­ser, und ich wun­der­te mich, wie ich so durch die Stadt ging, bei­de Hän­de frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spa­zier­te. Als ich an einer Ampel war­ten muss­te, betrach­te­te ich mei­nen Regen­schirm genau­er und ich staun­te, nie zuvor hat­te ich eine Erfin­dung die­ser Art zu Gesicht bekom­men. Ich konn­te dunk­le Haut erken­nen, die zwi­schen bleich schim­mern­den Kno­chen auf­ge­spannt war, Haut, ja, die Flug­haut der Abend­seg­ler. Sie war durch­blu­tet und so dünn, dass die Rinn­sa­le des abflie­ßen­den Regens deut­lich zu sehen waren. In jener Minu­te, da ich mei­nen Schirm betrach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, er wür­de sich mit einem wei­te­ren Schirm unter­hal­ten, der sich in nächs­ter Nähe befand. Er voll­zog leicht schau­keln­de Bewe­gun­gen in einem Rhyth­mus, der dem Rhyth­mus des Nach­bar­schirms ähnel­te. Dann wach­te ich auf. Es reg­ne­te noch immer. Jetzt sit­ze ich seit bald einer hal­ben Stun­de mit einer Tas­se Kaf­fee vor mei­nem Schreib­tisch und über­le­ge, wie mein geträum­ter Regen­schirm sich in der Luft hal­ten konn­te. Ob er wohl über Augen ver­füg­te und über ein Gehirn viel­leicht und wo genau moch­te die­ses Gehirn in der Ana­to­mie des schwe­ben­den Schirms sich auf­ge­hal­ten haben. — stop
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radiosonar

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sier­ra : 5.22 – Ich könn­te viel­leicht sagen, dass ich die Ana­to­mie mei­ner Woh­nung groß­zü­gig ken­ne. Ich weiß zu beschrei­ben, wo sich mei­ne Küche befin­det und wo genau dort Kühl­schrank, Tas­sen, Kaf­fee. Aber schon mit mei­nem Radio, sei­ner inne­ren Gestalt, fängt die Welt der nächs­te Nähe an selt­sam unbe­kannt zu wer­den. – Da ist noch etwas. Seit zwei Tagen habe ich das Gefühl, für jedes neue Wort, das ich ler­ne, ein ande­res zu ver­ges­sen. Warum?
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symphonie

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romeo : 0.01 — Da sind im Kon­zert­saal 8 Kon­tra­bas­sis­ten und sie flüs­tern mit­ein­an­der, wäh­rend sie lei­se etwas Jazz­mu­sik spie­len, viel­leicht weil das schon immer die bes­te Metho­de gewe­sen ist, ein Instru­ment aus dem Schlaf zu holen. Auch der Chor ist schon ein­ge­trof­fen und raschelt mit sei­nen Papie­ren. Eine ent­spann­te Atmo­sphä­re, eine Stim­mung, wie in den Wäl­dern kurz vor Anbre­chen der Däm­me­rung, ers­te Geräu­sche, schon bewuss­te, aber auch noch Traum­ge­räu­sche, alles nur zur Pro­be. Und ich lau­sche und den­ke, dass ich in weni­gen Minu­ten Zubin Meh­ta sehen wer­de, wie er Mahlers Sym­pho­nie No 3 diri­gie­ren wird. Und wie ich so sit­ze, erin­ne­re ich mich an Fin­ger­be­we­gun­gen einer jun­gen Frau, die im Prä­pa­rier­saal der Mün­che­ner Ana­to­mie mit Seh­nen und Mus­keln eines Armes spielt, eine Ges­te, als wür­de sie ver­su­chen, jenem namen­lo­sen Arm ein Geräusch zu ent­lo­cken. Schnee fällt. Knie­hoch wird er noch fal­len. Jack Lon­don lesen, notie­re ich. Und jetzt ist der Abend eines spä­te­ren Win­ters und ich sehe mei­ne Schrift­zei­chen, unge­lenk, weil schon im Halb­dun­kel des Kon­zert­saa­les ins Notiz­buch geschrie­ben. Alles das, in mei­nem Kopf durch­ein­an­der. Ich fan­ge am Bes­ten noch ein­mal von vor­ne an. Da sind also im Kon­zert­saal 8 Kon­tra­bas­sis­ten, sie flüs­tern mit­ein­an­der. Schnee fällt. Knie­hoch wird er noch fallen.

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anatomie der luft

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alpha : 0.02 — Wie­der eine hal­be Stun­de ver­sucht, einen sechs­ten Fin­ger an mei­ne lin­ke Hand zu den­ken. Und wie­der spür­te ich einen sechs­ten Fin­ger nur dann, wenn ich einen lin­ken und einen rech­ten sechs­ten Fin­ger dach­te zur sel­ben Zeit, wenn ich also bei­de Hän­de auf den Tisch leg­te und in mei­nem Kopf bear­bei­te­te. stop. Eine selt­sa­me Beob­ach­tung nach wie vor. stop. Auch, dass ich mit Duke Elling­ton im Kopf unver­züg­lich glau­be, wei­te­re sieb­te Fin­ger­we­sen illu­mi­nie­ren zu kön­nen. stop. Kurz nach Mit­ter­nacht. stop. Leich­ter Schnee­fall. stop.

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