echo : 0.05 — Vor wenigen Minuten habe ich entschieden, mir von einem hochverehrten Schriftsteller, den ersten Satz einer Geschichte zu leihen. Der Satz geht so: Es ist Mitternacht vorüber. Dieser erste Satz wurde von Robert Walser bereits im Jahre 1907 notiert, und ich dachte, ist es nicht wundervoll, dass Robert Walser und ich einmal einen ersten Satz teilen werden! — Noch zu tun heute Nacht: Einen situs inversus umkreisen. — stop
Aus der Wörtersammlung: kreise
kofferzimmer
echo : 2.18 — Ich stellte mir eine Minute vor, dann eine Stunde, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch, stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich erhob mich, sah nach der Uhrzeit, dann aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte und kam zurück, setzte mich aufs Sofa. Eine harmlose Geschichte. Sogleich weiter gedacht. Seltsame Kerne leise in meinem Kopf hin und her bewegt, jene von den Schlafwaben zum Beispiel, von Kofferzimmern, in welchen erwerbslose Menschen dämmernd lagern. Wie ihnen schmerzlos die Zeit vergeht, wie sie, von besseren Zeiten träumend, Blutkonserven aus ihren Knochen destillieren. Kaum hatte ich aufgeschrieben und mich gewundert über das, was ich dachte, stand ich wieder in der Küche, aß eine weitere Banane und einen Pfirsich zum Nachtisch. Dann, endlich, bemerkte ich Geraldines Sommerhut, sein Schaukeln auf atlantischen Wellen. Ungeheure Stille. Absolute Stille. In dieser namenlosen Stille, ein Hut allein auf dem Meer. Kein Schiff. Kein Land. Aber einhundert Seemeilenkreise von Stille in einem Bild, das ich niemals mit Augen sehen, sondern immer wieder nur denken werde. stop. Guten Morgen!
eisblumen
nordpol : 8.05 — Ich muss eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen sein. Stand vor dem Schreibtisch, hatte meinen rechten Arm senkrecht in die Luft gestreckt, übte mit dem Zeigefinger die kreisende Bewegung eines Propellers. Beobachtete das subkutane Spiel der Muskeln, bemerkte weitere Bewegung unter dem Hemd, krempelte das Hemd bis zum Ellenbogen hoch. stop. Die kleine uralte Narbe am Daumen. stop. Spur einer großen Geschichte. stop. Der Geschmack von Honig im Mund. Das Summen der Bienen. Die nackten Beine eines Mädchens. Ihre heiße Hand, die meinen schwellenden Daumen untersucht. Atem, der kühl ist. Eine helle Stimme, so viele Jahre alt. Sommerblumen. Wolken. Schlaf. Das schmelzende Eis auf meiner Stirn. — stop
libellencafe
tango : 8.08 — Ein Notizbuch, ein besonders Notizbuch, eines, das meine Gedanken verzeichnen würde, sobald ich spazieren gehe. Handlich müsste es sein und leicht und geräuschlos schreiben. Vielleicht wäre es möglich, diese kleine Gedankenschreibmaschine, so zu programmieren, dass sie jene Gedanken, die neue Gedanken sind, zu unterscheiden vermag von allen weiteren Gedanken, von Gedanken, die sich wieder und wieder denken wollen, von kreisenden Gedanken, von Karussellgedanken. – Während ich gestern Abend vor der Kasse eines Supermarktes wartete, hatte ich die Idee, dass man eines Tages einmal ein Haus erfinden müsste, ein Kaffeehaus, in dem unter den Gästen Libellen schwirren, prächtigste Flugwesen, die an Wänden und auf Tischen sitzen, auf den Tassen, den Gläsern, den Zeitungen, den Gästen selbst. Ja, das wäre eine feine Sache, ein aufregender Ort, eine angenehme Fantasie, die von der Gedankenschreibmaschine, die ich mir wünsche, sehr sicher und sofort notiert worden wäre. Man würde zum Frühstück zur Fütterung der Libellentiere dort vielleicht Fliegenschälchen reichen. Ja, das ist sehr gut denkbar, Fliegenschälchen großer Fliegen für große Libellen, und Fliegenschälchen kleiner Fliegen für kleine Libellen. Wie würde die Atmosphäre dieses Ortes wohl auf der Zunge schmecken? Und was wäre noch zu hören vom Gespräch der Gäste?
yanuk : medusenfliegen
~ : yanuk le
to : louis
subject : MEDUSEN
date : oct 4 08 8.55 a.m.
Gegen den Abend zu Höhe 286 erreicht. Wollte noch weiter steigen, heftiges Fieber zwang mich zur Ruhe. Zunächst lange Zeit geschlafen, nachdem ich mein Zelt errichtet hatte und vertäut mit dem Stamm des Baumes, der noch immer so kräftig ist, dass zwei oder drei Menschen ihn gemeinsam nicht umarmen könnten. Heute ist mir wohler, obwohl ich noch erhitzt bin. Auf Knien bewege ich mich über die Plattform, weil meine Schritte unsicher sind, habe das Gefühl zu schlingern. Ja, Mr. Louis, so schlafe ich und beobachte dann wieder das Steigen und Sinken der Medusenfliegen, es sind hunderte, vielleicht tausende Handteller große Wesen, deren Schirme langsam um sich kreisen. Und weil sie leuchten, ein zartes, blaues Licht, das pulsiert, das auf die Bewegung meiner Finger reagiert, als würden sie zu mir und mit mir sprechen, wird es nachts an dieser Stelle meiner Reise niemals dunkel. Habe nach langer Beobachtung festgestellt, dass sie miteinander verbunden sind, Fäden, sehr feines Werk, vielleicht freiliegende Neuronen, sodass ich den Schwarm der Medusenfliegen, als ein schwebendes Gehirn beschreiben könnte. Muss das weiter untersuchen. Hast Du schon einmal versucht, einen Fischschwarm zu zählen? Oder eine Vogelwolke? stop. Yanuk
eingefangen
15.58 UTC
1288 Zeichen
büchermenschen
15.02 — Ich hörte mich von Büchermenschen erzählen, von Büchermenschen, jawohl. Das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden‑, und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. — stop