romeo : 17.07 — m i l c h z a h n
Aus der Wörtersammlung: nordpol
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delta : 0.28 — s c h m e c k k n o s p e
geräusche des krieges
nordpol : 2.37 — Immer wieder einmal begegne ich im Nachtzug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr leise, kaum jemand scheint sich von seinem Singen gestört zu fühlen. Während er singt, sind seine Augen weit geöffnet, er blickt ins Leere, sein Mund ist geschlossen, Töne, die wir vernehmen, kommen aus seinem Hals heraus, der bebt, wenn er singt. Nur selten habe ich mit dem Mann gesprochen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im selben Zug in derselben Richtung, es ist mühsam, mit ihm zu sprechen, weil er stottert. Ich darf ihn nicht ansehen, wenn ich ihn nicht ansehe, kommen manchmal ganze Sätze aus seinem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der persischen Stadt Isfahan geboren wurde, Architektur studierte, gegen irakische Männer kämpfte, die jung waren wie er selbst, und dass er nur durch einen Zufall überlebte. Er konnte fliehen. Er floh zu Fuß in die Türkei, eine lebensgefährliche Reise, Sahin, seine Frau, wurde von irgendjemandem angeschossen, er trug sie kilometerweit durchs Gebirge, nahe der Grenze begegneten sie einem Esel, dem ein Bein fehlte. Sie schliefen unter einem Baum ohne Blätter, in der Nacht schleppten sie sich weiter, der Mond war heiß wie die Sonne und auf den Wegen hockten Schildkröten mit blau schimmernden Augen. Manchmal kommen die Geräusche vom Krieg, sie kommen, wann sie wollen, dann singt der Mann. – stop
von ameisenuhren
nordpol : 5.06 — Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Nach einer Verfolgungsjagd über Bahnsteige des Zentralbahnhofs, gewährt mir ein Junge von vielleicht acht Jahren einen Blick in eine seiner Manteltaschen. Er will jetzt nicht mehr weglaufen, er will nur ganz still neben mir auf der Treppe sitzen und zusehen, wie ich Uhren betrachte, die sich in eben seiner Manteltasche befinden. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele größere und kleinere Armbanduhren auf einem sehr engen Raum beobachtet. Wie ich mich der Uhrentasche nähere, und zwar mit einem Ohr, sieht mir der kleine Junge, der nicht mehr weglaufen will, zu. Vermutlich wird er bemerken, dass ich meine Augen schließe, um das Geräusch der Uhrwerke in seiner aufregenden Schönheit wahrnehmen zu können, ein sehr leises Brausen, sagen wir, wie von Tieren gemacht, als würde ein Volk der Wanderameisen näherkommen. Wie ich mich aufrichte, habe ich die Uhr meines Vaters wiedergefunden, und der Junge beobachtet, wie ich sie nun um mein Handgelenk lege und sehr fest ziehe, was der Junge seinerseits mit einem Lächeln quittiert. Diese Uhr, sagt er, gehöre jetzt wieder mir, er macht sehr große Augen. — stop
in der paukenhöhle
delta : 7.10 — Es ist leicht, sich Zellkörper vorzustellen, die vorsichtig geöffnet wurden, um in sie hinein spähen zu können. Ich wünschte ihre Strukturen mit Namen bezeichnen zu können, mit Wortkörpern, die mir gefallen. Bereits die Anatomie der Ameisen Wort für Wort auszuweisen, wird einen langen poetischen Atem erfordern. Ich überlegte, wie sich afrikanische Menschen bald erheben werden, sie fordern, ihre uralten Sprachen in unsere human anatomische Nomenklatur einzuspeisen, nervus olimambo, der fortan unter dieser Bezeichnung menschliche Augenlider innervieren wird. Bald melden sich Bewohner Grönlands, sunnitische und schiitische Stämme, Indianer der wilden Wälder Papua-Neuguineas. Sie alle haben den Wunsch, ihre Sprache, Wörter, ihre geistige Welt in der Vorstellung eines allgemeingültigen menschlichen Körpers zu hinterlassen. Das zuständige Büro der Uno hoch über dem East River, eine Behörde, Jahrzehnte nachdrücklicher Verhandlung in der Paukenhöhle. — stop
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arteria marau
romeo : 0.26 — Ich beobachtete meine Hände. Plötzlich der Wunsch, alle entdeckten Strukturen, Haut, Sehnen, Muskeln, Blutgefäße, Ströme, Atolle, Verzweigungen, Äste, bezeichnen zu können in lateinischer oder griechischer Sprache. Oder vielleicht einmal eigene Begriffe wählen. Ich könnte nach geografischen Phänomenen suchen: arteria japura . arteria solimoes . arteria madeira — stop
ein junge
nordpol : 4.52 — Im Wartezimmer hockte ein Junge von ungefähr fünf Jahren auf einem Stuhl. Er war noch so klein, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, holte er ein Telefon aus seiner Hosentasche und tippte eine Nummer. Kurz darauf klingelte das Telefon einer Frau, die dem Jungen gegenübersaß. Sie las in einer Zeitung. Als sie das Klingelgeräusch hörte, lächelte sie, ohne ihre Lektüre zu unterbrechen. Der Junge steckte sein Telefon in die Hosentasche zurück und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Einmal beugte er sich vor und band seine Schuhe. Von unten herauf schaute er mit dunklen Augen in meine Richtung. Wieder holte er das Telefon aus seiner Hosentasche, tippte eine Nummer, und das Telefon der Frau, die dem Jungen gegenübersaß, klingelte erneut ein oder zwei Minuten lang, dann legte der Junge auf. Er hüpfte vom Stuhl, rannte in einem weiten Bogen durch das Zimmer an wartenden Patienten vorbei und kletterte auf den Schoß der Frau mit der Zeitung, die sie für einen Moment wortlos zur Seite legte, um sie auf den Knien des Jungen bald wieder zu entfalten. Auch der Junge sagte kein Wort, er versuchte jetzt in der Zeitung zu lesen, er schien darin Übung zu haben. — stop
buenos aires
nordpol : Einmal, während einer Zugfahrt südwärts, lernte ich Valentin Ruiz kennen, einen damals schon hochbetagten Mann. Er bemerkte bald, nachdem ich in sein Abteil getreten war, dass ich ihn beobachtete, wie er in sein Notizbuch schrieb. Wir kamen ins Gespräch. Herr Ruiz erzählte, er habe lange Zeit in Argentinien gelebt, nahe der Stadt Buenos Aires. Er montierte dort Automobile in einer Fabrik. Als Robotermaschinen die Stadt besuchten, war das eine schwere Zeit gewesen. Darüber denke er gerade nach. Er berichtete von seinen Erfahrungen, von erstaunlichen Gedanken, sodass ich meinerseits mein Notizbuch öffnete. Kurz nachdem ich den Zug verlassen hatte, Herr Ruiz war in der wartenden Menschenmenge verschwunden, versuchte ich meine Gesprächsnotiz zu ergänzen. Ich musste mich beeilen, Herr Ruiz hatte sehr schnell, ja aufgeregt gesprochen, und ich hatte den Eindruck, meine Erinnerung könnte sich ebenso schnell verflüchtigen. Ich notierte: Mittels Wörtern sind zeitgenössische Maschinen an einem Ort bereits eingetroffen, lange bevor auch nur eine ihrer Schrauben angekommen ist. Sie sind Gegenstand der Begeisterung einerseits, aber auch von Furcht, sodass sie in jeder Richtung größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Wo eine Maschine zum Aufbau kommen wird, ist zunächst ein Raum angenommen, ein Raum, der bereits freigeräumt wurde oder zunächst befreit werden muss. Dann kommt die Maschine in der Wirklichkeit an, in der Mehrzahl der Fälle in Teilen. Begleitet wird sie von Menschen, die sich um ihre Reise bemühen. Manchmal bleiben Menschen, die die Maschine begleiten, an Ort und Stelle, demzufolge in der Nähe der Maschine, um aus Teilen ein Ganzes zu fügen. Man kann darüber staunen, dass an einem Ort, an dem zunächst nichts zu sehen war, sehr bald eine Versammlung technischer Partikel zu bemerken ist, die sinnvollerweise bereits sich in einem logischen Zusammenhang befinden. Eine Maschine ist stumm, solange sie nicht leuchtet. Schon eine blinkende Diode genügt, um Gesprächsbereitschaft anzudeuten. Maschinen, die mit elektrischen Strömen in Bewegung gesetzt werden, neigen zur Erhitzung, weshalb sie an der ein oder anderen Stelle atmen, also blasen. Teile der Maschinen sind so groß, dass sie von einem Menschen nicht gehoben, oder so klein, dass sie von einem menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden können. Wo Maschinen erscheinen, verschwinden Menschen jeder Größe. — stop
geckos
echo : 8.02 — Was für ein wunderschöner Morgen. Der Nachtwind hat einen leuchtenden Teppich von Blättern auf die Straße gelegt. Ich möchte meinen, aus dem Fenster eines Spielzeugzimmers in ein weiteres Zimmer zu spähen. Zwei Krähen spazieren auf der Straße, kreisen umeinander, vielleicht weil sie sich wundern, dass die Farben der Bäume auf den Asphalt gefallen sind. Nur zwei oder drei Meter weiter jagt ein Rudel hellblauer Geckos den Stamm einer Kastanie rauf und runter, so aufgeregt habe ich sie noch nie gesehen. Auch die Warane, 5 an der Zahl, seltener Anblick, wie sie so friedlich lungern auf dem Dach eines Automobils. Wenn ich mich nicht irre, haben sie damit begonnen, vom Fahrzeugblech zu kosten. Ja, was für ein wunderschön bunter Morgen! Nichts ist heute zu tun, als ein Buch zu öffnen und dem Abend entgegen zu lesen. — stop