echo : 0.05 — Würde man die Gestalt eines Basskäfers auf einem Blatt Papier zur Aufführung bringen, wäre zunächst ein enormer Knochenraum zu zeichnen, eine Kammer, in der sich Luft befindet, Luft in Erwartung einer Kraft, die sie in geräuschvolle Schwingung versetzen wird. Irgendwo dort, an einem der schmaleren Enden dieses Raumes, sitzt ein kleiner Kopf, Fühler, Ohrensegel, falten sich tastend durch seine unmittelbare Umgebung, feinste Apparaturen. Dafür Augen keine, aber Beine, die sich flink bewegen. Er spielt, wie alle seine Artgenossen, im Liegen auf dem Rücken, greift dann nach feinsten Saiten von Kupferchitin, die über seinen Bauchregionen aufgespannt. Wundervolle, sonore Töne sind zu hören, indem der Käfer sich selbstvergessen langsam um die eigene Achse zu drehen beginnt, dumdum, dumdum, immerzu links, immerzu links, immerzu linksherum. — Nacht. stop. Kühl. stop. Habe meine Winterbeleuchtung angeschaltet. Vier Lampen in der Küche, zwei im Flur, sieben in den Spazierarbeitszimmern, hell ist’s, als sei Tag. Guten Morgen. — stop
Aus der Wörtersammlung: wundervoll
animals
tango : 22.12 — Ich notiere so leise und behutsam wie möglich. Das erste noch winzige Blatt eines beschreibbaren Wesens ist in meiner Nähe gelandet. Spazierte, beobachtete den Himmel und als ich zurückkehrte, war dann alles bereits fertig gewesen. Noch leichte Unruhe auf meinem Schreibtisch, sobald ich mich vorsichtig nähere. Ein wundervolles Gefühl, die Blicke abertausender Augen, deren Licht ich nicht sehen, doch spüren kann. Und so sitze hier nun seit Stunden und überlege, welchen ersten Satz ich mit meinem Lichtstift in das lebende Blatt vor mir eintragen könnte. — stop
februarbrief
romeo : 0.15 — Noch war Februar gewesen, da verfasste ich einen Brief an ein Mädchen, das ich bereits kannte, als sie noch nicht laufen konnte. Sie heißt Rosario, was eigentlich nicht ganz richtig ist, weil das natürlich an dieser Stelle nicht ihr wirklicher Name sein darf. Aber dass ich ihr Patenonkel bin, ist eine Tatsache, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Rosario, ein zauberhaftes Wesen, wohnt jetzt in Brooklyn, New York, und zwar in der Hicksstreet nahe einem Haus, in dem Arthur Miller sein Drama Tod eines Handlungsreisenden notierte. Genau dorthin nun schickte ich meinen Brief, einen papierenen Brief in einem Luftpostumschlag, den ich in ein Päckchen zu einer Büchersendung steckte. Ich schrieb, – ich darf das zitieren, weil ich die Erlaubnis dazu erhalten habe -, folgende Zeilen: „Liebe Rosario, hiermit sende ich Dir ein spektakuläres Buch, einen Katalog Leanne Shapton’s, der mich Tage lang begeisterte. Von einer Liebe wird berichtet, Du solltest sie unbedingt lesen, eine wundervolle, in seltsamer Weise erzählte Geschichte. Was das Buch wohl bei sich denken mag, jetzt, da es nach einer Schiffsreise über den Atlantik her, im Flugzeug wieder zurück nach Amerika hin getragen werden wird? Gut, wir werden das vielleicht niemals herausfinden, oder, sag, hast Du gelernt, mit den Büchern selbst zu sprechen? Erinnerst Du Dich noch an Abende, da ich Dir vorgelesen habe? Du lagst auf meinem Bauch, eine kleine Katze, und einmal legtest Du Dein Ohr an meine Stirn, und wolltest meine Gedanken hören. Und als Du nichts vernehmen konntest, sagtest Du zu mir mit großen Augen: Du musst lauter denken, Louis, ich kann Dich nicht hören! Viel Vergnügen beim Lesen und Schauen wünscht Dir Dein Louis.“
wellenschatten schattenwellen
charlie : 20.01 — Die wundervolle Widersprüchlichkeit menschlicher Wesen. Wahrnehmen. Denken. Lernen. Leben. Jenseits der Schall-platten-sprech-automaten bewegt sich das Meer. — stop
robert walser
echo : 0.05 — Vor wenigen Minuten habe ich entschieden, mir von einem hochverehrten Schriftsteller, den ersten Satz einer Geschichte zu leihen. Der Satz geht so: Es ist Mitternacht vorüber. Dieser erste Satz wurde von Robert Walser bereits im Jahre 1907 notiert, und ich dachte, ist es nicht wundervoll, dass Robert Walser und ich einmal einen ersten Satz teilen werden! — Noch zu tun heute Nacht: Einen situs inversus umkreisen. — stop
geraldine beobachtet wolken
~ : geraldine
to : louis
subject : WOLKEN
Dieser wundervolle Himmel über mir, Mr. Louis, ich schreibe Ihnen, dass ich glücklich bin. Liege in meinem Stuhl und schaue den Wolken zu, wie sie einmal größer und dann wieder kleiner werden. Ich glaube, sie leben und wenn sie einmal verschwinden, sind sie nicht wirklich verschwunden, sondern nur in andere Wolken getaucht. Ja, so ist das mit all dem Leben, das ich am Himmel sehen kann. Ich liege da und träume und das Schiff brummt unter meinem Rücken und manchmal schaue ich zu meinen kleinen Füssen hin und wackle mit den Zehen. Stellen Sie sich vor, ich habe sie bemalt, nein, ganz sicher, ich habe sie bemalt, und ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch erzählen muss, warum ich sie bemalt habe. Er wird schon noch vorbeikommen, jawohl, ich bin mir sicher, bald wird er nach mir sehen, wird zaghafte Blicke auf meine Füße werfen und sofort werden sie sich erwärmen, nein, glühen werden sie, und ich werde meine Strümpfe und Schuhe in die Hand nehmen und hoffen, dass niemand mich so sehen wird, wie ich neben ihm laufe, barfuß, obwohl doch vor wenigen Tagen noch Eisberge im Wasser trieben. Er kommt gerade, mein kleiner Steward, kommt gerade die Treppe herauf. Ich kenne die Geräusche seiner Schritte. Ich habe Fieber, Mr. Louis, ich habe Fieber, und manchmal denke ich, dass ich all das hier nur träume, das Schiff, die Wolken, meinen tapferen Vater, meine immerzu weinende und ebenso tapfere Mutter, die Eisberge und Delfine, und dass ich verliebt bin, all das nur träume. Aber wer könnte in einem Traum noch so kräftig mit den Zehen wackeln, dass selbst die Möwen von der Reling flüchten? — Ich grüße Sie herzlich! Ahoi! Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 2.02.2009
22.15 MEZ
flaubert
0.02 — Will rasch folgende faszinierende Anekdote zitieren, die in Wolfgang Koeppens wundervollem Buch Ich bin gern in Venedig warum zu finden ist. Die Geschichte geht so : Flaubert schrieb eine Seite am Tag. In einer Gesellschaft bat man ihn — Sie sind doch Schriftsteller — einem Abwesenden eine Grußkarte zu schreiben. Flaubert ging in ein anderes Zimmer und blieb verschwunden. Nach drei Stunden erinnerte sich die Gesellschaft an ihn. Er saß am Tisch, die Karte vor sich und sagte: — So geht es … vielleicht. – Auf der Karte stand : Freundliche Grüße.
inszenierungsmaschine
2.26 — Sobald ich im Bauch einer elektrischen Inszenierungsmaschine 100 frei schwebende Textparticles von je 100 Wörtern über einen Zufallsgenerator miteinander verbinde, wird mit jedem weiteren Aufruf eines Textparticles jedes andere der 100 Textparticles möglich. Ich habe also eine Textversammlung, die sich wie eine Flüssigkeit verhält. Wie könnte ich nun eine Vereisung dieser Flüssigkeit erzeugen? Ich könnte zum Beispiel je 10 Textparticles zu einer Gruppe setzen und über einen Generator verschalten, sodass in einem ersten Schritt 10 Textparticles aus 100 Textparticles möglich wären. Oder ich bilde zwei Gruppen zu je 50 Textparticles und komme in dieser Weise auf zwei mögliche Textparticles einer ersten Wahl. Zwei Linien. Eine Weiche. Oder sehr gutes Eis. — Vielleicht sollte ich, wenn ich vom Schreiben eines linearen Textes spreche, zunächst an das Spinnen eines Eisfadens denken. Das Lesen, ein Vorgang der Enteisung. — Heute Nacht habe ich von 0 Uhr 12 bis 1 Uhr 52 Julio Llamazares wundervolle Stummfilmszenen aufgetaut.- stop
helene hanff
6.07 — Leichter Schneefall. Papierlicht. Las in Helene Hanffs wundervoller Briefsammlung 84, charing cross road. Wieder der 25. März 1950. New York. 14 East 95th St. — Frank Doel, was TUN Sie eigentlich da drüben?? Sie tun gar NICHTS, Sie sitzen nur HERUM! Wo bleibt Leigh Hunt? Und wo die Oxford Gedichtanthologie? Wo bleibt die Vulgata und wo der liebe vertrottelte John Henry? All das wäre eine so nette aufbauende Lektüre für die Fastenzeit gewesen … und Sie schicken mir absolut nichts! Sie lassen mich hier sitzen und lange Randbemerkungen in Bibliotheksbücher schreiben, die mir nicht gehören. Eines Tages wird das herauskommen, und sie werden mir meinen Bibliotheksausweis wegnehmen. Ich habe mit dem Osterhasen eine Abmachung getroffen, Ihnen ein Ei zu bringen. Er wird herüberkommen und feststellen, dass Sie in Untätigkeit verstorben sind. Für den nahenden Frühling brauche ich unbedingt einen Band mit Liebesgedichten. Keinen Keats oder Shelley! Schicken Sie mir Dichter, die Liebe machen können, ohne zu sabbern – Wyatt oder Jonson oder irgendeinen anderen … denken Sie sich selbst etwas aus. Einfach ein schönes Buch, schmal genug, um in eine Anzugtasche gesteckt und in den Central Park mitgenommen zu werden. Also, sitzen Sie nicht herum! Spüren Sie es auf! Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie dieser Laden existieren kann. — stop