Aus der Wörtersammlung: dach

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vom nachtstrassenmuseum

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alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Men­schen auf der Stra­ße tief unter mei­nem Fens­ter nach Süden hin kurz vor Beginn der Aus­gangs­sper­ren sich beei­len wür­den nach Hau­se zu kom­men. Sie gehen vor­an, so wie immer um die­se Zeit, aber allein. Es sind außer­dem weni­ge Men­schen, die sich dort unten bewe­gen. Für einen Moment dach­te ich, viel­leicht haben sie Ein­tritt bezahlt für das Muse­um der Nacht­ras­sen zur Zeit der Aus­gangs­sper­re: 150 €. Ich muss das beob­ach­ten, das Muse­um, die Men­schen und die Nacht­bie­nen, ihre Geräu­sche, ihre Wege, ihre Besu­che hier oben, wo ich am Fens­ter ste­he. — stop

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luftschreiben

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char­lie : 6.55 UTC — Beim Nach­barn im Kel­ler ruht auf einem klei­nen run­den Tisch, der von Wachs­fle­cken bedenkt ist, eine mecha­ni­sche Schreib­ma­schi­ne. Immer wie­der ein­mal den­ke ich an die­se Schreib­ma­schi­ne, wenn ich in den Kel­ler abstei­ge, um nach dem Strom­zäh­ler zu sehen. Ges­tern war sie noch immer dort in gelb­li­chen Licht auf dem Tisch zu sehen, bedeckt von etwas feuch­tem Staub und Mör­tel, der von der Decke fällt, sobald die Erde bebt unter der Stadt. Ich dach­te, ich soll­te mir eine mecha­ni­sche Schreib­ma­schi­ne in die Woh­nung holen, das Schrei­ben wie­der­ho­len wie frü­her noch ohne Mög­lich­keit einer Kor­rek­tur, auch mit der Kraft der Hän­de arbei­ten. Da sind Geräu­sche der Kin­der­zeit, sofort kann ich sie aus dem Gedächt­nis holen, wie ich mit jeder Tas­te einen Ton anschla­ge, manch­mal so sanft, so vor­sich­tig, dass ich das Papier, das über einer Wal­ze spannt, mit dem Druck­zei­chen nicht errei­che, dass ich, sagen wir, Zei­chen in die Luft set­ze, weich. — stop

ping

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giuseppi logan

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marim­ba : 2.28 UTC — Ich lese in Doro­thy Bak­ers Roman Young Man With A Horn. Plötz­lich den­ke ich an Giu­sep­pi Logan (Hört ihm zu!) dem ich im Jahr 2010 im Thomp­kins Squa­re Park per­sön­lich begeg­net sein könn­te. Vie­le Tage sind ver­gan­gen, seit ich eine Geschich­te gele­sen habe, von der ich mich sagen hör­te, sie sei eine Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen wer­de, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern soll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten wäh­rend eines Erd­be­bens ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, die ich stu­die­ren könn­te, um auf jene Geschich­te zu sto­ßen, wenn sie ein­mal nicht gegen­wär­tig sein wür­de. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den, man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann wie ein Black­out. Über 30 Jah­re war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len, als man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Es ist ein klei­nes Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle die Geschich­ten wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nicht ver­ges­sen will. — Heu­te las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Law­rence Nur­sing Care Cen­ter in Far Rocka­way, Queens wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie in New York City an den Fol­gen einer SARS-CoV-2-Infek­ti­on gestor­ben ist. — stop

 

Foto­gra­phie Jon Rawlinson

„Nie­mand klang in einem Ensem­ble so wie
Giu­sep­pi [Logan]. Bei sei­nem Spiel hielt er sei­nen Kopf weit zurück;
dazu erklär­te er: „Auf die­se Art ist mei­ne Keh­le weit offen“,
so konn­te er mehr Luft ein­zie­hen. Er spiel­te in einem
Umfang von vier Okta­ven auf dem Alt­sa­xo­phon. Was
ihn als Impro­vi­sa­tor von ande­ren unterschied,
war die Art, wie er sei­ne Noten platzierte
und damit einen bestimm­ten Klang schuf,
dem die ande­ren der Grup­pe dann folgten.
Sei­ne Stü­cke waren aus die­sem Grund sehr
attrak­tiv; Giu­sep­pi hat­te sei­ne ganz eigenen
Ansich­ten über Musik …“ – Bill Dixon

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kaja

2

echo : 0.28 UTC — Ein­mal spa­zier­te ich durch die Stadt. An einer Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le dach­te ich nach über dies und das, ich mach­te ein Schritt nach vorn und sofort wie­der zurück, eine Tram ras­te dicht an mir vor­bei und stopp­te mit krei­schen­den Rädern. Ein wüten­der Fah­rer stieg aus. Um ein Haar, um ein Haar. Ein ande­res Mal wan­der­te ich in den Ber­gen, es war der Schneib­stein, wo ich auf dem Gip­fel­pla­teau eine Pau­se ein­leg­te. Ich dach­te nach über dies und das, wäh­rend ich mit etwas Emmen­ta­ler in der Hand über eine Wie­se spa­zier­te. Plötz­lich set­ze ich mich auf den Boden und sah panisch gewor­den in den Abgrund, ein wei­te­rer Schritt hät­te genügt, ich wäre laut­los ver­schwun­den. Ein paar Doh­len äußer­ten sich zur Situa­ti­on: Kaja, kaja, kaja. Ich dach­te noch zur Beru­hi­gung: Ihr habt aber schö­ne koral­len­ro­te Füße. — stop

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faden

2

oli­mam­bo : 15.12 UTC — Ein­mal ent­deck­te ich das Wort Spinn­fa­den. Ja, dach­te ich, der­art fein soll­ten Erzäh­lun­gen aus­ge­dacht sein, dass sie sich wie an einem Spinn­fa­den ent­lang bewe­gen, der jeder­zeit rei­ßen könn­te. Nicht tele­fo­nie­ren. Nicht spa­zie­ren. Nicht Radio hören. Nicht atmen. Einer, der schweigt, soll­te gut geschla­fen haben. — stop
ping

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tram

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echo : 8.16 UTC — Seit einem Jahr nun sehe ich Stra­ßen­bah­nen zu, wie sie mich pas­sie­ren in der einen oder ande­ren Rich­tung, ohne sie je betre­ten zu haben. Stra­ßen­bah­nen sind anwe­send, aber nicht ver­füg­bar, weil ich das so ent­schie­den habe. Das hat es in mei­nem städ­ti­schen Leben noch nie zuvor gege­ben. Ein­mal war­te­te ich vor einer Ampel, als ein Wag­gon der Linie 16 neben mir hielt. Ich dach­te, sie war­tet wie ich. Im Wag­gon saß eine jun­ge Frau. Sie schau­te mich an und lächel­te. Die jun­ge Frau trug kei­ne Mas­ke, ihr Mund war knall­rot geschminkt. Sie schien begeis­tert zu sein. Ihre Augen strahl­ten. Sie hat­te etwas Ver­rück­tes an sich, etwas Tri­um­phie­ren­des. — stop
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der kleine august

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ulys­ses : 16.55 UTC — Ich spre­che zu schnell, dach­te August, ich spre­che zu schnell, zu häu­fig und zu lang. Ich wer­de fort­an lang­sa­mer spre­chen und sel­te­ner und lei­se. Er hat­te sich, noch ein Kind, vor­ge­nom­men, lang­sa­mer und deut­li­cher zu spre­chen, weil sei­ne Freun­de und sei­ne Eltern und sei­ne Leh­rer immer wie­der ein­mal bemerkt hat­ten, dass er viel zu viel spre­chen wür­de. Du sprichst, lie­ber August, zu lang und zu schnell. Wenn er sich erin­ner­te, ent­deck­te er zahl­rei­che Wochen, Mona­te, Tage sei­nes kur­zen Lebens, da er ver­such­te, stil­ler zu wer­den. Er war erfolg­reich gewe­sen, aber immer nur so lan­ge er sich selbst zuhör­te und sich in Gedan­ken sag­te, lang­sam spre­chen, August, lang­sam spre­chen, jetzt hörst du auf zu spre­chen. Du sagst ein­mal zehn Minu­ten lang nichts. August sah auf sei­ne Uhr. Mut­ter frag­te ihn, wie es in der Schu­le gewe­sen war, aber August sag­te nichts, sah auf die Uhr und war­te­te. Warst du denn in der Schu­le, frag­te Mut­ter. Natür­lich, war ich in der Schu­le gewe­sen, dach­te August, ich erin­ne­re mich, soeben bin ich zurück­ge­kehrt. Er sah auf die Uhr und war ganz still und er fühl­te sich wohl und dann waren zehn Minu­ten Zeit der Stil­le des klei­nen August ver­gan­gen. Kaum waren zehn Minu­ten Zeit ver­gan­gen, war August schon in den Gar­ten gerannt. Mut­ter saß im Gras in der Son­ne und schäl­te Kar­tof­feln. Heu­te habe ich kaum etwas gesagt in der Schu­le, erzähl­te August. Er sprach sehr lang­sam. Ich war ganz still, sag­te August, fast bin ich ein­ge­schla­fen. Dann habe ich etwas gesagt, aber ich war wie­der viel zu schnell. Da habe ich dann geschwie­gen, habe nur die Hälf­te erzählt von dem, was ich erzäh­len woll­te. Da bin ich dann ein­ge­nickt. Und als ich wach wur­de, habe ich die­se furcht­ba­re Stim­me gehört. — stop

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google earth

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echo : 22.52 UTC — Ein­mal bemerk­te ich die Sil­hou­et­te eines Men­schen am Strand von Montauk, einen Strich, der einen Schat­ten warf. Ich dach­te: Das ist eine im Beson­de­ren berüh­ren­de Erschei­nung vom Welt­raum her gese­hen. Der Pla­net scheint belebt zu sein. — Ich ver­lie­re Wör­ter, wenn ich nicht lese, nicht schrei­be, nicht lang­sam spre­che. Tages­si­gnal­wör­ter sind Wör­ter, die von einem Tag gestem­pelt sind. Der heu­ti­ge Tag könn­te dem Wort Ohr­trom­pe­te ver­bun­den sein. — stop

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ameisengesellschaft LN — 1722

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MELDUNG. Amei­sen­ge­sell­schaft LN — 1821 [ Honig­topf­amei­se : Cam­po­no­tus infla­tus ] Posi­ti­on 36°40’S 144°16’O nahe Ben­di­go [ Aus­tra­lia ] / Fol­gen­de Objek­te wur­den bei hoch­som­mer­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren am 31. Dezem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res von 9.00 — 10.02 Uhr AEST über das nord­west­li­che Wen­del­por­tal ins Waren­haus ein­ge­führt : ein­und­fünf­zig tro­cke­ne Flie­gen­tor­si gerin­ger Grö­ße [ meist ohne Kopf ], elf Baum­stäm­me [ à 5 Gramm ], zwei­und­zwan­zig Rau­pen in Grün, sechs Rau­pen in Oran­ge, acht­und­acht­zig Insek­ten­flü­gel [ ver­mut­lich der Gat­tung Odys­seus­fal­ter,], sechs Streich­holz­köp­fe [ à ca. 1.8 Gramm ], son­nen­ge­trock­ne­te Rosen­blät­ter [ ca. 122 Gramm aus dem ver­gan­ge­nem Jahr ], ein­hun­dert­und­zwei Schne­cken­häu­ser [ je ohne Schne­cke ], zwölf gelähm­te Schne­cken [ je ohne Haus ], sie­ben­und­acht­zig Amei­sen anlie­gen­der Staa­ten [ betäubt oder tran­chiert ], zwei hell­graue Dieb­kä­fer [ schla­fend ], drei Aas­ku­geln eines afri­ka­ni­schen Pil­len­dre­hers, wenig spä­ter der Pil­len­dre­her selbst, ein­hun­der­acht­und­ach­zig Wild­bie­nen, fünf­und­fünf­zig Gall­äp­fel, zwei Injek­ti­ons­na­deln je 3.005 Gramm. — stop

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im park

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lima : 23.01 UTC — Ich war heu­te im Park, wo noch vor Mona­ten Kirsch­bäu­me blü­hend paar­wei­se über eine Wie­se spa­zier­ten. Von den Hun­den, sobald es dun­kel wird, siehst Du dort nichts als das Licht, das um ihren Hals gelegt, oder ihre glü­hen­den Augen im Schein der Fahr­rad­la­ter­nen. Heu­te waren auch zwei flie­gen­de Hun­de unter­wegs oder beleuch­te­te Vögel, weil da auch Licht her­um­flog, viel­leicht Droh­nen, zwei klei­ne, das war selt­sam, auch dass sie mich viel­leicht beob­ach­te­ten, wie ich nach ihnen sah. Ich dach­te an Fahr­rä­der, die unsicht­bar in Baum­kro­nen hän­gen. Und ich dach­te, dass selt­sam ist, dass ich manch­mal bemer­ke in Gedan­ken, wor­an ich gera­de noch dach­te. Ver­mut­lich war ich ganz grün gewe­sen vom Nacht­sicht­licht, wer weiß. — stop
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