sierra : 0.01 — n a s e n b a l l
Aus der Wörtersammlung: sierra
paris : 5 minuten
sierra : 3.15 – Der junge Mann will wissen, ob ich vielleicht gerade Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Sein Gesichtsausdruck, indem er auf mein Mobiltelefon deutet, ist ernst. Ich wohne in Paris, sagt er, ich bin dort aufgewachsen, ich studiere in Deutschland, ich habe versucht meinen Großvater zu erreichen, aber er meldet sich nicht, ich komme nicht durch, ich bin so aufgeregt, auch meine Freundin ist verschwunden. Wir stehen am Bahnhof, warten auf einen Zug, der in Richtung des Flughafens fährt. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Mobiltelefon des jungen Mannes wird von achtzehn Todesopfern berichtet, auf meinem sind bereits über vierzig Menschen gestorben. Der junge Mann läuft immer wieder einmal einige Meter den Bahnsteig entlang, schaut auf sein Telefon, hält es an sein Ohr, kommt wieder zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Ich sage: Ich glaube, für Frankreich wurde gerade der Ausnahmezustand erklärt. Oh Gott, antwortet der junge Mann, was ist nur geschehen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir kennen uns eigentlich nicht gut. Fünf oder sechs Minuten Zeit sind vergangen, seit der junge Mann fragte, ob ich Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Plötzlich klingelt sein Telefon. – stop
=
tango : 1.55 — n a s e n w u r z e l
=
sierra : 0.02 — t h a l a m u s k e r n e
aylan kurdi
sierra : 23.25 — Ich hatte bis zum späten Abend keine Zeitung gelesen und auch die Fernsehmaschine nicht angestellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, fragte, ob ich die Fotografie mit dem Jungen gesehen hätte, der aus Kobanê geflüchtet, vor einem Urlauberstrand der Türkei ertrunken und Land gespült worden sei. Er sagte, er habe mir die Aufnahme gerade eben geschickt, und ich hörte genau in diesem Moment das Geräusch einer ankommenden E‑Mail mit dem Betreff: Der Junge. Eine halbe Stunde später öffnete ich die Datei. Auf der Fotografie war der Körper eines Kindes am Strand zu erkennen, einsam, unendlich einsam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrunken war, seinen Körper behutsam am Strand abgelegt, seht her, schaut, was geschehen ist, öffnet die Grenzen, lasst Flüchtlingsmenschen endlich mit Flugzeugen zu euch kommen, wehrt sie nicht ab, errichtet keine Zäune, hört auf, Waffen zu liefern, mit welchen tatsächlich auf Menschen geschossen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekommen seid. Millionen elektrische Exemplare dieser Fotografie eines leblosen Kindes sollen sich innerhalb weniger Stunden um die Welt verbreitet haben, eine Fotografie, die nie wieder verschwinden wird, ein Gedächtnisbild möglicherweise, wie das Bild (Pulitzerpreis 1973) der durch friendly fire schwer verletzten Kim Phúc und der Geschwister des Mädchens, fliehend auf einer Straße im Süden Vietnams, ein Gedächtnisbild, an das sich die Menschheit nun gewöhnen wird, das Bild betrachten und bedenken, damit es seinen Schrecken verliert, bis man es nicht mehr wahrnehmen wird. Der Name des Jungen: Aylan Kurdi. Er wurde 3 Jahre alt. Nicht alle werden sich gewöhnen. — stop
=
sierra : 0.05 — m a n t e l z e l l e
msallata
sierra : 0.28 — Ich begreife zahlreiche Erscheinungen der menschlichen Kommunikation im Durcheinander der Stimmen, der Bewegungen, die ich Nacht für Nacht erlebe, um Stunden, manchmal um Tage verzögert. Es ist so, als würde ich beständig einen hochauflösenden Tonfilm speichern, welchen ich mit Verzögerung in der Zeit abspiele, um Details, um Zusammenhänge nachvollziehen zu können, die zunächst in ihrer umfassenden Erscheinung nicht wahrnehmbar waren. Manchmal setzt dieser Hintergrundfilm während seiner Aufnahme eine kleine Boje aus, die in Echtzeit signalisiert, da ist etwas, da war etwas: Achtung! Ich glaube, ich verfüge über Augen oder Kameraobjektive, die in der Lage sind, nach allen Himmelsrichtungen Ausschau zu halten. Sobald ich sie suche, kann ich diese Augen nicht finden, es sind vermutlich sehr kleine Augen. — Null Uhr achtundzwanzig auf dem Meer vor Msallata, Lybia. — stop
salzluft
sierra : 6.25 — In der zentralen Bibliothek der Stadt Uppsala soll eine Abteilung duftender Bücher existieren. Der Beschreibung nach handelt es sich bei dieser Abteilung um einen kühlen, abgedunkelten Saal, in dem sich entlang der Wände gläserne Behälter reihen, in welchen sich je ein Buch befindet. Diese Bücher seien mindestens einhundert Jahre alt. Sie hätten sehr bewegte Zeiten hinter sich, seien zur See gefahren, überdauerten Jahrhunderte in Kirchen oder überlebten zu Füßen vulkanischer Berge schwerste Eruptionen. Nähere man sich nun einem dieser Behälter, würde man bemerken, dass er über einen Vorsatz mit einem Riegel verfüge, den man öffnen könne, sobald man eine Nase an den Vorsatz legte. Unverzüglich würde man überrascht von intensiven Düften, von Salzluftduft, zum Beispiel, wie er Seehäfen eigen sei, oder von Schwefeldämpfen, von Weihrauch- oder Myrredüften. Lesen könne man die Bücher natürlich nicht, das sei nun überhaupt nicht vorgesehen, sie sind ja eingesperrt, und das würde sich niemals ändern, eine merkwürdige Geschichte. Diese merkwürdige Geschichte wurde mir gestern von einem Reisenden erzählt, der nachts im Terminal 1 des Flughafens wartete. Es war um kurz nach fünf Uhr, als sich eine Frau mit einem kleinen roten Koffer in der Hand nährte. Sie erkundigt sich nach der Uhrzeit. Ich sagte: Es ist genau fünfzehn Minuten nach. Woraufhin die Frau weiter fragte: Morgens oder abends? — stop
apollo
sierra : 0.58 — Zwei Stunden vor Computermaschine. Ich beobachtete wieder einmal Astronauten einer Apollomission, wie sie sich Fischen gleich durch ihre Kapsel oder durch den Weltraum bewegen. Indem ich verfolge, wie sie vor einer Kamera an Spielobjekten Wirkungen der Schwerelosigkeit demonstrieren, indem ich ihre beschädigten Funkstimmen höre, die Erinnerung an den Gedanken, dieses Scheppern, Pfeifen, Knistern, Krächzen könnte entstanden sein, weil ihren Stimminstrumenten das Gewicht der Welt entzogen wurde. Sie erscheinen nun als Gefangene eines Filmdokumentes. Wie wird sich meine eigene Stimme vielleicht in den sieben Jahren, die vergangen sind, seit ich das Filmdokument zuletzt beobachtete, verändert haben? — stop
562
sierra : 4.15 — Irgendjemand nummeriert mittels Kreidezeichnung Bäume in meiner Straße, warum? — stop