charlie : 3.05 — Das Wort weicht nicht vor dem Wort, sondern vor dem Text zurück. — Eine merkwürdige Erfahrung. — Ich nehme das Wort REGENKÄFER aus einem Text heraus, lege es auf ein Blatt Papier und suche weitere Wörter. Solange Zeit suche ich, bis das WORT zufrieden geworden ist. Dann mache ich eine Pause, beobachte einen Film, der vom Victoriasee erzählt, schlafe ein, wache auf, gehe zum Schreibtisch zurück und nehme das Wort ERINNERUNG aus einem Text heraus, lege es auf ein Blatt Papier und suche so lange Zeit weitere Wörter, bis das WORT zufrieden geworden ist. — Ich notiere: Zwei Uhr und achtzehn Minuten. Wieder habe ich bemerkt, dass sich die Zeit rückwärts nur in kleinen oder großen Sprüngen einnehmen lässt. Die Zeit mag sich nicht in die Vergangenheit spulen. — stop
Aus der Wörtersammlung: wörter
kukkuruku
kukkuruku : 18.10 — Ich mag die Gegenwart nicht in gegenwärtigen Wörtern erzählen. stop. Wenn ich die Gegenwart erzähle, verwende ich Wörter einer alten Zeit. stop. Warum? stop. Glühlampe. stop. Vor den Fenstern ists dunkel geworden. stop. Nach 6 Stunden vor der Schreibmaschine werden anstatt Wörtern, noch Satzstempel aufs Papier gesetzt. — stop
pupille
olimambo : 8.00 — Anatomische Wörter des Abends: Regenbogenhaut Aequator Kammerwasser. Dann Morgenspaziergang. Eine Gruppe Eichhörnchen jagt um 6 Uhr Straßenbahngeleise auf und ab. Dicht kommen sie heran, sind ohne jede Scheu, als ob ich eine vertraute Erscheinung wäre oder unsichtbar. — stop
tuba auditiva
victoria : 8.12 — Anatomische Arbeiten. Spielte Tonbandstimmen, las zum Gehör, studierte Strukturen der Muschel. — Zehn Uhr und zweiundzwanzig Minuten MEZ in Shangil Tobay, Darfur. — stop
one minute filmzeit
echo : 8.25 — Die Beobachtung, dass man einen Minutenfilm entlang die Luft anhalten könnte, ohne das Bewusstsein zu verlieren. — stop
leuchtstoffe
tango : 2.33 — Wieder wunderbare Wörter gelesen: Mandelbrotstruktur Lebensbaum Augapfel Pyramidenbahn Venenstern Liquor Medianusgabel Herzbeutel. – stop.
gedankenstimme
india : 5.12 – Ich wiederholte einen Gedanken, den ich gegen Mitternacht wahrgenommen hatte, in dem ich versuchte, ihn zunächst langsam und kurz darauf in einer schnelleren Weise zu denken. Und während ich also Geschwindigkeiten probierte, entdeckte ich, dass ich einerseits mit Wörtern, mit Stimmwörtern denke, aber auch ohne Stimme, ohne Wörter. Ich kann die Wörterstimme in meinem Kopf schneller denken oder ich kann sie langsamer denken. Gedanken, erste Gedanken, die scheinbar ohne Sprache sind, sind dagegen so schnell, dass sie bereits fertig geworden sind, wenn sie in meinem Kopf bisher nicht angefangen haben. – Gestern wurde Radovan Karadžić gefangen. — stop
brooklyn
zebraspringspinne
echo : 0.50 — Kurz nach Mitternacht. Gerade eben entert meine Zebraspringspinne den Tisch. Eigentlich wollte ich rasch eine kleine Geschichte erzählen, von einem afrikanischen Mann, dem ich regelmäßig begegne morgens vor der Zentralstation, einem Mann, der immer wieder betrunken ist und immer wieder nur einen Schuh trägt und eine seltsame Sprache spricht, eine Mixtur aus französischen, englischen, deutschen und afrikanischen Wörtern. Aber jetzt sitzt die Spinne auf dem Tisch und der afrikanische Mann muss warten. Ich ahne bereits, wo meine Spinne wohnt. Wieder die Frage, ob diese Spinne dieselbe Spinne ist, mit der ich den vergangenen Sommer verbrachte? Wie groß wird die Spinne auf meinem Schreibtisch einmal werden, wie lange kann ich mit ihr noch befreundet sein? Ob sie sich der Gefahr bewusst ist, in der sie sich befindet? Was eigentlich frisst diese Spinne, die meine Spinne ist, solange sie nicht flieht? — Neun Uhr zwölf in Rangen, Burma. — stop
flaubert
~ : louis
to : Mr. gustave flaubert
subject : MEMPHIS
Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre voraus reisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.