marimba : 3.05 – Am vergangenen Mittwoch soll Ludwig, er ist gerade 8 Jahre alt geworden, dabei beobachtet worden sein, wie er eine Schuhschachtel vor das Fenster seines Zimmers stellte, um 1 Stunde lang das Licht eines frühen Nachmittags einzufangen. Er wendete in dieser Stunde nicht eine Minute seinen Blick von dem Behälter, den er dann sorgfältig mit ernster Miene verschloss, um ihn noch an demselben Tag mit seiner Mutter zu einem Postamt zu bringen. Das ist für meinen Freund Janos, erklärte Ludwig dem Beamten, der bei der Verfertigung einer zollamtlichen Erklärung behilflich war, 1 Stunde Sonne für meinen Freund, der in Teriberka weit im Norden in Russland wohnt. Jetzt wartet Ludwig. Es ist denkbar, dass er nun seinerseits zur Weihnacht vielleicht etwas Winternachtlicht geschenkt bekommen wird. — stop
aufs offene meer
india : 5.08 – In dieser Nacht ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Ich beobachtete auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine die pendelnde Bewegung zweier Fährschiffe der Staten Island Flotte auf der Upper New York Bay. Es handelte sich einerseits um die Fähre MS Molinari, andererseits um die Fähre MS Andrew J. Barberi. Stundenlange planmäßige Reisen der Schiffe von Stadtteil zu Stadtteil. Plötzlich, es war gegen 4 Uhr europäischer Zeit gewesen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fähre MS Molinari Kurs auf das offene Meer hinaus, ein so von mir noch nie zuvor beobachteter Vorgang. Nach einer halben Stunde wurde das Schiff langsamer, wartete einige Minuten, als würde es nachdenken, um kurz darauf zu wenden und zur St. George Terminalstation zurückzukehren. Wenige Minuten später verliess die Fähre John F. Kennedy, eigentlich eine Tagfähre, das Terminal in Richtung Manhattansüd. Das ist tatsächlich sehr seltsam, ich muss wach bleiben, ich muss das Seltsame weiter beobachten. — stop
2 minuten
alpha : 5.25 – Eine Freundin, B., erzählte, sie sei kürzlich in einer Straßenbahn gefahren, da habe ein Mann in ihrer Nähe Platz genommen. Sie habe gerade gelesen, als sich der Mann fast lautlos setzte, sie habe kurz ein wenig den Blick gehoben und auf dem Unterarm des Mannes die Zeichen ISLAM entdeckt, diese Zeichen seien dort eintätowiert gewesen, eine Hautbeschriftung wie für die Ewigkeit eines ganzen Lebens. Sie habe dann erst einmal ihre Lektüre fortgesetzt, aber sie habe sich nicht länger auf ihr Buch konzentrieren können, darum habe sie den Blick gehoben. Ihr Blick sei über die Inschrift ISLAM, sie war tatsächlich noch immer dort gewesen, hinweggehuscht zum Gesicht des Mannes hin, das ein junges Gesicht gewesen sei. Der Mann habe sie äußerst bedrohlich, also aggressiv oder so ähnlich, betrachtet, ein Blick unentwegt, ein Blick ohne einen Lidschlag, da habe sie sich gefürchtet, habe ihren eigenen Blick wieder gesenkt und das Buch angesehen, aber natürlich nicht gelesen, sondern nachgedacht. Ja, was sie gedacht habe, sei nicht gerade angenehm gewesen, sie habe sich überlegt, ob der Mann, der ihr gegenübersaß, vielleicht eine Waffe, gar einen Sprengstoffgürtel tragen könnte. Ihr sei auch in den Sinn gekommen, dass sehr viele Menschen in der Straßenbahn gefahren seien, was eigentlich ein gutes Zeichen gewesen sei, weil man ihr hätte helfen können, einer gegen viele, aber dann habe sie daran gedacht, dass gerade dort, wo viele Menschen sich befinden, Bomben explodieren, weil man in dieser Weise viele Menschen auf einmal umbringen könne, und sie habe den Eindruck gehabt, dass sie sofort aufstehen und aussteigen sollte. Aber dann habe sie sich gesagt, dass sie das jetzt aushalten müsse, und deshalb sei sie sitzen geblieben, und das alles in ein oder zwei Minuten. — stop
2 Uhr 12
delta : 2.12 – Im vergangenen Winterjahr nur zwei Paar und einen einzelnen Handschuh verloren. — stop
im verborgenen
delta : 0.55 — In Peter Bichsel’s Erzählung Die Erde ist rund wartet ein wunderbarer erster Satz. Der Satz geht so: Ein Mann, der weiter nichts zu tun hatte, nicht mehr verheiratet war, keine Kinder mehr hatte und keine Arbeit mehr, verbrachte seine Zeit damit, dass er sich alles, was er wusste, noch einmal überlegte. — Wie würde ich anstelle des Mannes zunächst vorgehen. Würde ich vielleicht ein Verzeichnis meiner Erinnerungen anlegen, oder würde ich mich still in meine Küche setzen und mich umsehen und überlegen, was ich von meiner Küche weiß? Da war vorhin noch eine Schüssel voller Äpfel, Mandarinen, Bananen gewesen, und der Wunsch, Gegenstände, auch erfundene Dinge und Wesen, unverzüglich zu öffnen, um nachzusehen, was in ihrem Inneren zu vermerken ist. Vorwärts suchen und erfinden in die Tiefe. Vorwärts bis hin zur letzten einsamen Haut, die jedes verbleibende Geheimnis umwickelt, eine Beruhigung. Aber dann, sobald ich beispielsweise ein Fernsehgerät betrachte, wenn es acht Uhr abends geworden ist, weiß ich, dass ich kaum noch etwas von da draußen wissen kann, weil je nur halbe Äpfel oder noch kleinere Teile zu erkennen sind, oder Äpfel, die nur vorgeben oder behaupten, Äpfel zu sein, oder Äpfel, die zu schnell geworden sind. Einmal beobachtete ich dort auf dem Bildschirm eine Kampfmaschine, die von einem Flugzeugträger aus startete. Im Verborgenen, außerhalb meiner Bildschirmlichtzeit, flog die Kampfmaschine vermutlich weiter. Was ist geschehen? — stop
liberty
MELDUNG. Aus 32500 Fuß Höhe über dem Pazifischen Ozean kurz vor Santa Rosa abgeworfen: Rotbauchmeerkatze Liberty, 3 Jahre, 2564 Gramm, achte Überlebende der Testserie Teflon-D08 {Hautwesen}. Man ist zur Stunde noch vollständig ohne Sprache, aber bei vollem Bewusstsein. – stop
=
ulysses : 0.05 — h e r z b e i n
nahe turku
nordpol : 5.12 – Gestern, es ist natürlich Nacht gewesen, überlegte ich, ob es eventuell möglich sein könnte, eine Uhr von reinstem Eis zu konstruieren, eine Uhr, die Zeit anzuzeigen, eine funktionierende Uhr, nicht nur einfach eine schöne Uhr und kalt, eine Uhr mit einem Uhrwerk von Eis, mit Zahnrädchen, die zu Wasser würden, wenn man sie erwärmte, und einem größeren und einem kleineren Zeiger aus den Tiefen des Humboldt-Gletschers sowie einem Zifferblatt von Schnee. Plötzlich halte ich einen Apfel in der Hand und friere und beschäftige mich eine halbe Stunde mit der Frage, woher die Vorstellung einer Eisuhr vielleicht gekommen sein könnte. — stop
nahe central park
alpha : 6.55 – Früher Abend, Sommer. Ein Reporter befragt ein Mädchen nahe Central Park. Das Mädchen, 8 Jahre alt, trägt ein rotes Kleid. Was willst Du einmal werden, will der Reporter wissen. Das Mädchen schaut sich kurz um. Es scheint seine Antwort bereits zu kennen, aber vielleicht ist seine Antwort ein Geheimnis, von dem nicht jeder Kenntnis haben darf. Das Mädchen sagt: Ich will Meerjungfrau werden, und verdreht die Augen. Das ist aber eine schöne Idee, antwortet der Reporter. Das Mädchen überlegt für einen Moment. Nein, sagt es dann, das ist keine Idee, sondern Bestimmung. Freust Du Dich, Meerjungfrau zu werden, fragt der Reporter. Aber natürlich, sagt das Mädchen. Seit wann weißt Du denn, dass Du Meerjungfrau werden wirst? Ach, schon immer, antwortet das Mädchen, und verdreht wieder die Augen. Für einen Augenblick schweigt der Reporter, um dann fortzusetzen: Was ist die größte Herausforderung für Dich auf dem Weg, eine Meerjungfrau zu werden. Oh, sagt das Mädchen, die Luft anzuhalten. Jetzt hüpft es davon. — stop
louis an louis
romeo : 6.55 – Du wirst Dich vielleicht wundern, lieber Louis, weshalb ich für Dich notiere in dieser Weise auf eine Seite Papier von Heißluftballonen über der Stadt Turku, unter welchen in Körben schlafende Menschen wohnen. Ich erzählte Dir von einer schneeweißen Spinne mit acht hellblauen Augen, die im Gefrierfach Deines Kühlschranks wohnt. Erinnerst Du Dich? Wie wir durch Istanbul fahren im Winter im Wagen einer alten Straßenbahn auf der Suche nach Mr. Pamuk. Wir sind allein im Waggon, es ist schon spät, wir sitzen gleich hinter der Kabine des Fahrers und erzählen lauthals von der Erfindung der Trompetenkäfer. Der Fahrer, ein älterer Herr, nickt immerzu mit dem Kopf, und wir überlegen, ob er unsere Sprache vielleicht verstehen könnte, also erzählen wir weiter, wir erzählten von Vögeln ohne Füße, die niemals landen, von Tiefseeelefanten, die den Atlantik in Herden durchstreifen, und von der Sekunde da Melly Cusaro, wohnhaft in Brooklyn, an ihrem 10 Geburtstag beschloss, Astronautin zu werden. Wenn Du diesen Brief lesen wirst, lieber Louis, wird ein Jahr später sein. Ich habe diesen Brief vor genau 365 Tagen für Dich aufgeschrieben, verbunden mit der Anweisung, ihn am 1. Dezember 2015 an Dich zuzustellen. Im Text sind wesentliche Passwortkerne für Deine Schreibmaschine enthalten, gut versteckt, Du wirst sie, sofern notwendig, wiedererkennen. Würdest Du bitte noch in dieser Stunde, da Du meinen oder Deinen Brief gelesen haben wirst, Passwortkerne, mit neuen Phrasen und Geschichten versehen, einen weiteren Brief notieren, zu senden an Louis im Auftrag: Zuzustellen am 14. Dezember des Jahres 2016. Sei herzlich gegrüßt. Alles Gute! Dein Louis – stop