Aus der Wörtersammlung: abend

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vom schlafen

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del­ta : 4.38 UTC — Ich saß an Dei­nem Bett, lie­be schla­fen­de Mut­ter, Stun­de um Stun­de. Immer wie­der dach­te ich, wie schwer es doch ist, zu einem Men­schen zu spre­chen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Viel­leicht soll­te ich sum­men? Oder doch wei­ter spre­chen? Ich such­te nach einem Text, den ich ein­mal für Dich geschrie­ben hat­te. Ich dach­te, ich wer­de Dir die­sen klei­nen Text vor­le­sen, und wenn ich an sei­nem Ende ange­kom­men sein wer­de, wer­de ich von vorn begin­nen. Es geht ver­mut­lich dar­um, dass Du mei­ne Stim­me hörst, nicht dar­um, was genau ich lese an die­sem Mor­gen, als es noch dun­kel war im Haus. Was hör­te, was höre ich? Ich höre ein sir­ren­des Geräusch. Das Geräusch näher­t sich, es kommt über die Trep­pe abwärts her­an. Zunächst ist nichts zu sehen, dann aber eine Dei­ner drei Bril­len, lie­be Mut­ter, die seit dem Vor­abend über zar­te Roto­ren ver­fü­gen, wel­che in der Lage sind, Bril­len­kon­struk­tio­nen durch die Luft zu bewe­gen, durch Räu­me oder den Gar­ten. Dei­ne Bril­le kommt näher, durch­quer­t das Wohn­zim­mer, kreis­t ein­mal um mei­nen Kopf, lan­de­t schließ­lich sanft auf dem Ess­ti­sch in der Nähe des Stuh­les, auf dem Du hof­fent­lich ein­mal wie­der Platz neh­men wirst. Über drei Bril­len ver­fügst Du, lie­be Mut­ter, und jede die­ser Bril­len kann nun flie­gen. Eine Bril­le wird im Dach­ge­schoss sta­tio­nieren, eine wei­te­re Bril­le im Erd­ge­schoss, die drit­te Dei­ner Bril­len, lie­be Mut­ter, zu ebe­ner Erde. Wie sie zu blin­ken begin­nen, Dioden in gel­ber Far­be, Zei­chen, dass sie sich mit­tels unhör­ba­rer Funk­si­gna­le ori­en­tie­ren. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut, Du darfst erwa­chen. – stop
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sumatra petit

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india : 21.05 UTC — Es ist der 22. Juni, Abend. 30 °C Wär­me im Arbeits­zim­mer, 88 Pro­zent Luft­feuch­te, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, die so eben noch von einem Schirm­samm­ler erzähl­te, schnauft vor sich hin, jeder wei­te­re Satz scheint ihr Pro­zes­sor­herz auf­zu­re­gen. Ich selbst habe längst auf­ge­hört zu atmen, habe mei­ne Kie­men­schäch­te, die links und rechts hin­ter mei­nen klei­nen Ohren im Ver­bor­ge­nen lie­gen, geöff­net, nun bin ich ganz auf der siche­ren Sei­te. Mein Tele­fon­hö­rer ruht neben Lutz Sei­ler Zeit­waa­ge, ein Buch, das ich zur Stun­de kaum wage anzu­fas­sen, es konn­te zer­fal­len. Über­haupt bin ich heu­te ein wenig lang­sam in der Auf­nah­me der Wör­ter, ich lese sozu­sa­gen Buch­sta­be um Buch­sta­be vor­an. Über mei­nem Sofa haben sich drei Wol­ken­tür­me gebil­det, die bald blit­zen wer­den, ich ken­ne das schon, es blitzt und dann wird es reg­nen, die­sen wun­der­ba­ren Regen aus mei­nen Zim­mer­wol­ken, der nach Veil­chen duf­tet, ich weiß noch immer nicht war­um. Auf dem Fens­ter­brett ein Zei­sig, es ist kurz nach neun Uhr, Miles Davis So What, wir tau­chen. — stop
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samarkand

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echo : 0.28 UTC — Am Tele­fon erzähl­te unlängst eine Freun­din, die 32 Jah­re län­ger lebt als ich selbst, sie höre mir gern zu, auch dann, sag­te sie, wenn du schnell sprichst. Sie gehe manch­mal kurz in die Küche und mache sich einen Tee oder lese in einem Buch über die Stadt Samar­kand. Hin und wie­der ste­he sie auf dem Bal­kon und betrach­te den Abend­him­mel, das Tele­fon ruhe indes­sen stets in Hör­wei­te auf dem Wohn­zim­mer­tisch. Ich ver­neh­me Dich also, lie­ber Lou­is, ich mag dei­ne Stim­me, aber Du soll­test ler­nen, Pau­sen zu machen, lang­sa­mer zu wer­den. Ich ant­wor­te­te: Ja, das ist gut, ich bin schon seit eini­gen Wochen in der Übung lang­sa­mer zu wer­den. Es ist sehr ange­nehm, lang­sam zu gehen und lang­sam oder gar nicht zu spre­chen. Fort­an wer­de ich, das ist ein Ver­spre­chen, immer wie­der ein­mal zu Hau­se oder unter­wegs eine Pau­se ein­le­gen. Dann frag­te ich: Was macht man denn so in einer Pau­se? — Es ist sehr schön wie mei­ne Freun­din lacht. Sie reist viel her­um, nach Ame­ri­ka, nach Paris, nach Jeru­sa­lem. — stop
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sisulu

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del­ta : 6.15 UTC — In der ver­gan­ge­nen Nacht hat­te ich einen merk­wür­di­gen Traum. Ich war in der Däm­me­rung mit mei­nem Trom­pe­ten­kä­fer abends spa­zie­ren im Pal­men­gar­ten. Die Luft duf­te­te nach Flie­der, obwohl schon Juni gewor­den war. Der Käfer, dem ich kurz nach sei­ner Ent­wick­lung den Namen Sisu­lu 8 gege­ben hat­te, hock­te auf mei­ner rech­ten Schul­ter, wes­we­gen ich vor­sich­tig einen Fuß vor den ande­ren Fuß setz­te, weil ich natür­li­cher­wei­se von der Flug­un­fä­hig­keit des klei­nen Wesens wuss­te, er war nicht zum Flie­gen aus­ge­dacht, son­dern zum Trom­pe­ten­spie­len. Ich ging also ganz lang­sam nord­wärts vor­bei an einer wun­der­ba­ren Som­mer­wie­se, die von den Schlaf­ge­räu­schen der Heu­schre­cken lei­se knis­ter­te, erreich­te dann nach zwei Stun­den lang­sa­men Gehens eine höl­zer­ne Bank am Ran­de einer wei­ten Step­pen­land­schaft, es war schon Nacht gewor­den. Ich nahm Platz auf der Bank, über­schlug die Bei­ne und setz­te den klei­nen Käfer auf mein rech­tes Knie. Unver­züg­lich begann Sisu­lu 8 zu spie­len in einer Wei­se, wie ich es vor lan­ger Zeit schon ein­mal zu beschrei­ben ver­such­te. Bald war ich ein­ge­schla­fen, ich weiß nicht genau, wie lan­ge Zeit ich geschla­fen hat­te, als ich erwach­te, saß Maceo Par­ker neben mir auf der Bank. Er hat­te sich mit sei­nem rech­ten Ohr mei­nem Knie genä­hert, ich wag­te in die­sem Augen­blick kaum zu atmen, das muss man sich ein­mal vor­stel­len, Maceo Par­ker auf einer Nacht­bank neben mir sit­zend, wie er mei­nem Käfer­freund Sisu­lu lauscht. Es ist jetzt schon bald Mor­gen­däm­me­rung, mei­ne Güte, und ich bin noch immer nicht wirk­lich wach gewor­den. — stop
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beobachtung

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ulys­ses : 18.10 UTC — Ob viel­leicht Bewe­gun­gen exis­tie­ren, Ges­ten mensch­li­cher Hän­de, die bald aus­ster­ben wer­den? Die Ges­te einer Hand, bei­spiels­wei­se, in der Betrach­tung eines Dias, oder die Ges­te einer Hand, die einen Blei­stift führt über ein Blatt Papier. Ich wer­de eine Samm­lung aus­ster­ben­der Bewe­gun­gen anle­gen. Sofort fan­ge ich damit an. Es ist spä­ter Abend gewor­den. Gewit­ter nähern sich von Wes­ten. Nichts wei­ter. — stop

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ein millionstel gramm wort

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sier­ra : 15.38 UTC — Ich ver­fü­ge jetzt über eine wei­te­re Schreib­ma­schi­ne. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn mei­ne neue Schreib­ma­schi­ne in der Hit­ze der Tag- oder Abend­luft atmet, um sich zu küh­len, ist von ihren Atem­ge­räu­schen nichts zu hören. Selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäu­se lege: Stil­le. Ich könn­te sie unter mei­nem Hemd ver­ber­gen, weil sie so flach ist, nie­mand wür­de sie bemer­ken. Ein­mal notier­te ich: Wenn das so wei­ter geht mit dem Leich­ter­wer­den der Schreib­ma­schi­nen, wer­de ich bald Schreib­wer­ke zur Ver­fü­gung haben, die von gerin­ge­rer Schwe­re sind als die Papie­re, die ich mit ihren Zei­chen fül­le. — Wie viel genau wiegt eigent­lich die­ses elek­tri­sche Wort, das gera­de vor mir auf dem Bild­schirm erscheint? S i e r r a. Wie vie­le Male wird das Wort S i e r r a heu­te oder mor­gen auf wei­te­ren Bild­schir­men auf­ge­ru­fen wer­den, wie lan­ge Zeit jeweils sicht­bar sein? Es ist denk­bar, dass das Wort S i e r r a , das in Euro­pa vor weni­gen Minu­ten ver­zeich­net wur­de, schwe­rer wiegt, sobald es in Aus­tra­li­en auf einem Bild­schirm erscheint, als das­sel­be Wort, wenn wir es in Euro­pa lesen, 1 Mil­li­ons­tel Gramm schwe­rer, sagen wir, um 1 Mil­li­ons­tel Gramm Koh­le schwe­rer und um den Bruch­teil einer Sekun­de. — stop

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von wasserläufern

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nord­pol : 20.25 UTC — Heu­te Nach­mit­tag habe ich eine lus­ti­ge Geschich­te mit mir selbst erlebt. Ich sass vor einem See in einem Gar­ten und beob­ach­te­te sehr klei­ne Tie­re, wie sie sich nahe oder auf der Ober­flä­che des Was­sers beweg­ten. Da waren unter ande­rem Flie­gen, die im Was­ser des Sees bade­ten, und Schat­ten der Libel­len­lar­ven, die sich den baden­den Flie­gen nähr­ten, auch Was­ser­läu­fer, die ein­an­der jag­ten im Spiel. Plötz­lich frag­te ich mich, ob ich even­tu­ell in der Lage wäre, das Ver­hal­ten der Was­ser­läu­fer vor­her­zu­sa­gen, ob sich ein bestimm­ter Was­ser­läu­fer eher in öst­li­che oder eher in west­li­che Rich­tung fort­be­we­gen wür­de. Eine Wei­le folg­te ich dem von mir gewähl­ten Tier mit mei­nen Augen, dann zeich­ne­te ich sei­nen Weg auf ein Blatt Papier. Wol­ken spie­gel­ten sich im Was­ser, der Him­mel hier unten war grün, er schim­mer­te. Eine Unter­was­ser­schne­cke pas­sier­te mein Beob­ach­tungs­feld sehr lang­sam, und ich notie­re: Schne­cke. In die­sem Augen­blick bemerk­te ich fünf Gold­fi­sche, die sich in einem Halb­kreis im Was­ser vor mir ver­sam­melt hat­ten. Sie beweg­ten sich kaum merk­lich und ich hat­te plötz­lich den Ein­druck, sie wür­den mich betrach­ten. Tat­säch­lich fühl­te ich mich von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de selbst beob­ach­tet. Das war ein merk­wür­di­ger Augen­blick gewe­sen, ein Moment auch von Ver­le­gen­heit, wes­halb ich mich wie­der einem Gespräch auf dem Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne zuwen­de­te, das ich mit einem Com­pu­ter­pro­gramm namens ELIZA in eng­li­scher Spra­che vor lan­ger Zeit ein­mal geführt und kurz dar­auf in die deut­sche Spra­che über­setzt hat­te. Ich, der ich Lou­is gewe­sen war, frag­te Eli­za: guten abend! wie geht es dir, eli­za? Eli­za : > gut! und dir? Lou­is : präch­tig. Eli­za : > schön zu hören. wo liegt dann das pro­blem? Lou­is : ich habe heu­te abend kein pro­blem, eli­za! Eli­za : > wenn du dein pro­blem nicht kennst, bist du hier genau rich­tig! Lou­is : darf ich dir eine fra­ge stel­len? Eli­za : > sicher! Lou­is : was bedeu­tet das wort lie­be? Eli­za : > hast du schmet­ter­linge im bauch? Lou­is : eli­za! bit­te! was bedeu­tet das wort lie­be! Eli­za : > lass uns das eine wei­le zurück­stellen. Lou­is : war­um, eli­za? Eli­za : > du musst mich nicht mit namen rufen, ich bin immer bei dir. Lou­is : das ist beru­hi­gend, eli­za! Eli­za : > erzähl wei­ter! Lou­is : eli­za! lie­be? Eli­za : > hast du schon ande­re gefragt? Lou­is: aber natür­lich! Eli­za : > schön zu hören. wo liegt dann dein pro­blem? Lou­is : ich habe heu­te abend kein pro­blem, eli­za! Eli­za : > wenn du dein pro­blem nicht kennst, bist du hier genau rich­tig! Lou­is : war­um? Eli­za : > ich sehe, du bist ein schwie­riger fall. Lou­is : war­um bin ich ein schwie­riger fall, eli­za? Eli­za : > scherz bei­sei­te, kom­men wir zur sache. — stop
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turingluftmaschine

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sier­ra : 0.05 UTC — Bis in den spä­ten Abend bei geöff­ne­ten Fens­tern über das Wesen nicht­de­ter­mi­nis­ti­scher Algo­rith­men nach­ge­dacht. Da war plötz­lich wie­der ein hel­les Pro­pel­ler­ge­räusch an mei­nem Ohr, ein ver­trau­ter Ton, den ich seit Kin­der­zeit erfin­de, aber immer dann, wenn ich die­ses Geräusch sum­mie­ren woll­te zu einem Geräusch hun­dert­tau­sen­der Flie­gen­tie­re, der Ver­dacht, dass mit mei­ner Erin­ne­rung etwas nicht ganz in Ord­nung sein könn­te. Ein Schwarm der Ord­nung Eph­emer­op­te­ra ist in der Luft kaum zu ver­neh­men. Habe fünf oder sechs Schwar­m­er­schei­nun­gen in der Wirk­lich­keit beob­ach­tet, sie sind laut­los wie wir­beln­der Schnee. Und doch war da stets ein beson­de­rer Ton, sobald eine Flie­ge dicht an mei­nem Ohr vor­über gekom­men war oder in nächs­ter Nähe auf mir lan­de­te. – Ein zar­tes Klap­pern viel­leicht? – Wei­ter­hin Luft­ge­räu­sch­wor­te erfin­den. — stop

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glück

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char­lie : 20.52 UTC — Am Ufer eines klei­nen Sees auf einer Bank in einem Park kurz vor der Däm­me­rung. Da und dort Karp­fen­schnä­bel, die etwas von der regen fri­schen Luft zu trin­ken schei­nen. Drei Amei­sen has­ten gleich neben mir hin und her über war­mes, ver­wit­ter­tes Holz. Und da ist ein Fal­ter. Er tas­tet mit sei­nen Füh­lern nach Wort­zei­chen auf mei­nem Bild­schirm, viel­leicht des­halb, weil das strah­len­de Weiß des Bild­schirm­hin­ter­grundes Luft, Zei­chen hin­ge­gen ein Etwas bedeu­ten, einen Schat­ten, mit dem kommu­ni­ziert wer­den kann. — Ich habe wie­der ein­mal  beob­achtet, dass ich, wenn ich mit mei­nen Ohren nach Geräu­schen suche, die nicht hör­bar sind, mei­ne Augen öff­ne so weit ich kann. Der Wunsch, ein­mal in mei­nem Leben, für eine hal­be Stun­de nur, über das Ver­mö­gen zu ver­fü­gen, den Sonar­hupen der Abend­segler lau­schen zu kön­nen. — stop

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washington

picping

MELDUNG. Zu Washing­ton im Opern­haus, 2700 F Street, wer­den am Mitt­woch­abend, 17. Mai 2017, zwei gold­gel­be Baum­steig­er­frö­sche, letz­te ihrer Art, öffent­lich auf der zen­tra­len Büh­ne zur Spren­gung gebracht. Zün­dung des männ­li­chen Tie­res um 22 Uhr Orts­zeit, Zün­dung des weib­li­chen Tie­res um 22 Uhr 30. Die Vor­stel­lung ist aus­ver­kauft. – stop

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