Aus der Wörtersammlung: eindruck

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sandor marai

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sier­ra : 10.14 — Lan­ge Zeit der Ein­druck, dass in mei­nem Leben nur weit ent­fern­te Wesen ster­ben, Wesen bei­spiels­wei­se, die Madras bewoh­nen, Wesen ohne Nie­ren. Dann, von einem Tag zum ande­ren, endet mei­ne Kind­heit. Erin­ner­te mich an eine Notiz des 84-jäh­ri­gen unga­ri­schen Dich­ters San­dor Marai. “In der Nacht urplötz­lich die Gewiss­heit, dass ich sterb­lich bin — nicht die Mög­lich­keit, son­dern die Tat­sa­che. Es war nicht beängs­ti­gend. — Und eini­ge Tage spä­ter, am 31. Okto­ber des­sel­ben Jah­res: Das Ster­ben beginnt damit, dass man es nicht mehr für unmög­lich hält zu ster­ben. 84 Jah­re lang habe ich es nie­mals für mög­lich gehal­ten, und ich hat­te recht.” – Elf Uhr fünf­und­zwan­zig in Suni, West­dar­fur. — stop
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sames salter

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~ : louis
to : Mr. james salter
sub­ject : MARIT

Lie­ber James Sal­ter, als ich heu­te Nacht am Schreib­tisch saß und in Ihren wun­der­ba­ren Erzäh­lun­gen las, habe ich eine klei­ne Spin­ne bemerkt, die mich beob­ach­te­te, jawohl, sie saß auf dem Feins­ten der Blatt­haa­re eines Ele­fan­ten­fuß­bau­mes, der neben mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne steht, und beob­ach­te­te mich aus meh­re­ren win­zi­gen schwar­zen Augen. Ich habe über­legt, was die­ses Wesen wohl in mir sieht. Für einen wei­te­ren kur­zen Moment habe ich dar­über nach­ge­dacht, ob Spin­nen viel­leicht hören, — ich lese oft laut vor mich hin, das soll­ten sie wis­sen -, und so wun­der­te ich mich, dass ich vie­le Jah­re gelebt habe, ohne der Fra­ge nach­zu­ge­hen, ob Spin­nen über Ohren­paa­re oder doch wenigs­tens über einen zen­tra­len Gehör­gang, wo auch immer, ver­fü­gen. Ich saß also am Schreib­tisch, ich las und die klei­ne geti­ger­te Spin­ne, von der ich Ihnen erzäh­le, seil­te sich zur Tas­ta­tur mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne ab. Ich hat­te den Ein­druck, dass ihr die­se Luft­num­mer Freu­de mach­te, weil sie ihre Lan­dung immer wie­der hin­aus­zö­ger­te, indem sie den Faden, der aus ihr selbst her­aus­ge­kom­men war, ver­speis­te, dem­zu­fol­ge ver­kürz­te. Viel­leicht hat­te sie bemerkt, dass ich sie betrach­te­te, das ist denk­bar, weil ich auf­ge­hört hat­te, laut zu lesen für einen Moment, um nach­zu­den­ken, viel­leicht woll­te sie, um sich mir dar­zu­stel­len, auf mei­ner Augen­hö­he blei­ben. Das war genau in dem Moment als Marit nach ihrer letz­ten Nacht auf unsi­che­ren Bei­nen die Trep­pe her­un­ter­ge­kom­men war, Marit, die doch eigent­lich seit Stun­den schon tot gewe­sen sein muss­te. Marit setz­te sich auf eine Trep­pe und begann zu wei­nen. Sicher wer­den Sie sich erin­nern an Marit, wie sie auf der Trep­pe sitzt und weint, weil sie wuss­te, dass sie eine wei­te­re letz­te Nacht vor sich haben wür­de. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pau­se gemacht, weil ich erschüt­tert war, weil das Gift nicht gewirkt hat­te. Ich saß vor mei­nem Schreib­tisch und über­leg­te, ob auch sie, James Sal­ter, erschüt­tert waren, als Marit so lang­sam, auf unsi­che­ren Bei­nen die Trep­pe her­un­ter­kam. Und wäh­rend ich an Sie und Ihre Schreib­ma­schi­ne dach­te, beob­ach­te­te ich die Spin­ne, die mit ihren sehr klei­nen Bei­nen, den Faden, an dem sie hing, betas­te­te. Ist das nicht ein Wun­der, eine Spin­ne wie die­se Spin­ne? Haben Sie schon ein­mal bemerkt, dass es nicht mög­lich ist mit einer elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne zwei Buch­sta­ben zur glei­chen Zeit, also über­ein­an­der, auf das Papier oder den Bild­schirm zu schrei­ben? Immer ist einer vor, nie­mals unter dem ande­ren. Mit herz­li­chen Grü­ßen. Louis.

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lou reed

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0.15 – Stim­mung fieb­ri­ger Hei­ter­keit. Der Ein­druck, dass ich mich auf einem Dampf­schiff befin­de. Lei­se wum­mern­des Stamp­fen der Maschi­nen. Vor­hin hat mir ein freund­li­cher Schiffs­dok­tor küh­len­de Sal­ben gebracht für die Brust, einen Saft, der die Tem­pe­ra­tur sen­ken soll, in einer merk­wür­dig blau­en Far­be, und Trop­fen für die Nase, die doch noch völ­lig in Ord­nung ist. Eine Arm­län­ge ent­fernt auf dem Boden steht eine lei­se pfei­fen­de Kan­ne Tee. Das hört sich ein wenig so an, als wür­de die Kan­ne zu mir spre­chen, weil ich heu­te selbst mei­ne beweg­ten Bil­der von Tag und Nacht durch­ein­an­der spie­le. Da ist John Lurie. Er lagert in Brook­lyn vor einem Tabak­wa­ren­la­den und spielt sein Saxo­fon. Und da ist Lou Reed. Er raucht wie der Teu­fel, wäh­rend er erzählt, dass er sich vor den Schwe­den fürch­te. Und da sind Geckos, fin­ger­lan­ge Geckos, hell­blau, ein Rudel. Sie jagen über die Decke mei­nes höl­zer­nen Zim­mers dahin. — stop

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seide

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5.24 — In der U‑Bahn immer wie­der der Ein­druck, dass Men­schen mit­tels ihrer rascheln­den Zei­tun­gen zuein­an­der spre­chen. Eine Wei­le ist Ruhe, aber dann blät­tert jemand eine Sei­te um, und schon knis­tert der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he wei­ter. Man möch­te in die­sen Momen­ten mei­nen, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal habe ich mir Zei­tungs­pa­pie­re von stoff­ar­ti­ger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, sodass kei­ner­lei Geräusch von ihnen aus­ge­hen wür­de, sobald man sie berühr­te. Eine eigen­tüm­li­che Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, ein Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung, eine ver­geb­li­che Erwar­tung. — stop

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tunnel

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16.24 — Eine Geschich­te von einer erfun­de­nen Foto­gra­fie aus erzäh­len. Ich könn­te eine Umge­bung der Foto­gra­fie kom­po­nie­ren, eine erzähl­te Foto­gra­fie in einer erzähl­ten Foto­gra­fie. Neh­men wir an, in jeder die­ser erzähl­ten Foto­gra­fien wäre eine wei­te­re Foto­gra­fie zu fin­den, dann wür­de ich von Foto­gra­fie zu Foto­gra­fie, ich wür­de durch Tun­nels der Zeit erzäh­len. – Ich ver­mag durch die rei­ne Über­le­gung des Schnees nicht wirk­lich den Ein­druck von Küh­le erzeu­gen. — stop

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gorilladame

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18.52 — Wäh­rend einer U‑Bahnfahrt eine zar­te Hand in einem schwar­zen Leder­hand­schuh, die sich mit ihrer Rück­sei­te in mei­ne Hand schmiegt. Für einen Augen­blick der Ein­druck, neben einer fein­glied­ri­gen Goril­l­a­da­me zu sit­zen. — stop
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steinzeichenmaschine

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0.55 — Eine merk­wür­di­ge Per­son könn­te ein­mal erfun­den wor­den sein, ein Mann, der vor einer schwe­ren, mecha­ni­schen Schreib­ma­schi­ne sitzt. Er notiert, ohne ein Farb­band ein­ge­legt zu haben. Dann nimmt er das Papier aus der Maschi­ne und macht den Ein­druck der Zei­chen­sät­ze sicht­bar, indem er mit einem Blei­stift das Papier ver­dun­kelt. — stop

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zyklope

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20.33 — Ein­mal, vor zwei oder drei Jah­ren, erzähl­te mir ein jun­ger Medi­zin­mann einen merk­wür­di­gen Traum. Fol­gen­des, sag­te der Mann. Stell dir einen War­te­saal vor, einen Bahn­hof. Rei­sen­de sit­zen dort auf höl­zer­nen Bän­ken. Sie rau­chen und plau­dern mit­ein­an­der. Unweit einer Schal­ter­ga­le­rie kau­ern unbe­klei­de­te Zyklo­pen von schnee­wei­ßer Haut zu einem Kreis auf dem Boden, tau­schen Her­zen und Gehir­ne und Bei­ne und Arme von Men­schen. Sie rau­chen gleich­wohl und scher­zen in einer Spra­che, die nicht zu ver­ste­hen ist. Ich erin­ne­re mich, mei­nen eige­nen Kopf gese­hen zu haben. So lan­ge rei­chen sie ihn her­um, bis jeder der Zyklo­pen ihn ein Mal in Hän­den gehal­ten und von allen Sei­ten her betrach­tet hat. — An die­ser Stel­le mach­te der jun­ge Mann eine Pau­se. — Wol­ken­lo­ser Nacht­him­mel mit Mond. Der Ein­druck, es wür­de reg­nen. — stop

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luren

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12.55 — Das Wort l u r e n : ein zunächst opti­sches Wort, dann ein Zei­chen­satz, der in mei­nem Gehirn einen akus­ti­schen Ein­druck erzeugt. Genau dort, zwölf Uhr drei­ßig, im Papier­licht Duft plötz­lich von gebrann­ten Man­deln, war­um? — stop
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