3.18 — Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinausgetragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notizgerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, Dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — stop
Aus der Wörtersammlung: erle
déjà-vu
15.08 — In der schwankenden Straßenbahn höre ich, wie sie mit brennenden Augen nach Worten suchen für das scheppernde Licht des Magnesiums, für das Fauchen der bengalischen Feuer, die sie in Händen gehalten haben. Da ist eine Nachtsekunde, die Sekunde, in der sie das rote, das verbotene Stäbchen entzündet und gerade noch eben rechtzeitig von sich geworfen haben, da ist das Heulen der chinesischen Pulverpfeifen, da sind Funkenregen, da sind blaugraue Wölkchen, die sich auf kleine Zungen niederlegen. Nicht die Feuerblumen des Himmels, das Spektakel der nächsten Nähe entfesselt die Erinnerung von Stunde zu Stunde. Zündhölzer, verborgen in Hosentaschen, sind zurückgeblieben, auch dieses Schwefelholz, eine heimliche Geschichte. — stop
seide
5.24 — In der U‑Bahn immer wieder der Eindruck, dass Menschen mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung, eine vergebliche Erwartung. — stop
tunnel
16.24 — Eine Geschichte von einer erfundenen Fotografie aus erzählen. Ich könnte eine Umgebung der Fotografie komponieren, eine erzählte Fotografie in einer erzählten Fotografie. Nehmen wir an, in jeder dieser erzählten Fotografien wäre eine weitere Fotografie zu finden, dann würde ich von Fotografie zu Fotografie, ich würde durch Tunnels der Zeit erzählen. – Ich vermag durch die reine Überlegung des Schnees nicht wirklich den Eindruck von Kühle erzeugen. — stop
cinema
12.52 — Nehmen wir einmal an, jenseits der uns bekannten Lebenszeiträume würde eine Zeit existieren, ein Zeitort, an dem wir unbegrenzt anwesend sein könnten, eine Gegend weiterhin, von der aus wir in ein vergangenes Leben zurückschauen und reisen könnten, indem wir Filme gelebter Tage betrachteten. Nehmen wir also an, dieses Kino würde existierten, dann sollte ich von dieser Stunde an, — nicht eine Minute sollte ich verschwenden -, Filme von starkem Licht verzeichnen, Gedanken wie Erlebnisse behandeln, sodass sie später gleichwohl als Filme zu besichtigen wären. Ich setze mich also in eine U‑Bahn oder in einen Park oder vor meinen Schreibtisch und mache je einen Film für später nur mit dem Kopf. — stop
time
17.50 — Wie viele Stunden Zeit würde ich benötigen, um die chinesische Sprache zu erlernen? — stop
liebeslaute
1.55 — Seit ich gestern, gegen den Morgen zu, erfahren habe, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist, immer wieder die Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte, die atemlose Sprache der Lust vielleicht oder die Sprache der Chaträume? Ob eine dieser menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, auf hoher See Luft perlend vor einem Wal zu schweben und zu warten und zu wissen, dass er gleich, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird. Etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine Frage: Wie heißt Du, mein Freund? Oder : Ich hörte von Bäumen! - Es ist 2 Uhr 10 und ich bin sehr gut gelaunt, weil ich etwas Lichtenberg gelesen habe. Er schreibt um das Jahr 1774 herum: Eine Fledermaus könnte als eine nach Ovids Art verwandelte Maus angesehen werden, die, von einer unzüchtigen Maus verfolgt, die Götter um Flügel bittet, die ihr auch gewährt werden. – Wie aber sollte ich einem Walfreund Abu-Ghraib, Grosny, Darfur, Simbabwe, Tibet und Burma erklären, das Foltern, das Okkupieren, das offene und das heimliche Töten von Menschenhand? Und wie den Hunger? Und wie das Schweigen? — stop
luftbeben
2.15 — Heute Nacht, weiß der Himmel warum, knistern die Wände meiner hölzernen Zimmer. Vielleicht ist der Boden unter der Stadt nach Norden vorgerückt, und ich höre in diesen Stunden das Nachfedern des Hauses. Oder aber feinste Substanzen der Luft sind in elektrischer Bewegung, weil hinter den wandernden Erdmagneten bereits Winter wird. Um eins gehe ich aus dem Haus. Um zwei bin ich zurück. Jetzt ist es fünfzehn Minuten später und in New York gerade kurz nach sieben Uhr Abend, beste Zeit einen kleinen Imbiss zu mir zu nehmen. Dann wieder an die Arbeit. Habe noch ein paar Namen zu erfinden. Geräusche, sagen wir: — Burma 8. Mandrill. Subseven. Milanomaki. — Gern würd ich die kommenden 500 Jahre überleben. — stop