viktory : 15.02 UTC — D. rief an. Sie habe, sagte sie, gerade eben noch einmal unsere gemeinsame Freundin B. besucht, die im Sterben liege. Es war spät am Abend und ich dachte, ich könne nicht anrufen am Bett einer Sterbenden um diese Uhrzeit. Ich wartete also und schlief, dann war die Nacht vorüber. B. meldete sich mit kaum noch hörbarer Stimme. Ihre Tochter sitze neben ihr und würde das Telefon halten, ja, es wird langsam Zeit, sagte sie, 94 Jahre, nein, ins Krankenhaus mag sie nicht mehr gehen, sie will jetzt aufhören, sie sei dankbar, es gehe ihr gut, ich solle an sie denken und ihr wünschen, dass es nicht lang dauern möge, ja, sie könne schlafen. Schöne Gespräche, sagte sie, haben wir geführt in diesem Sommer, Walter Kempowski, ja, den kenne ich persönlich. Ich antwortete, dass ich ihr dankbar sei für ihre Geschichten von der Geschichte, von Rostock, und diesen Dingen, wie sie den Krieg gerade so überlebte. Und ich hörte, dass sie immer müder wurde, und ich frage noch, ob ich sie vielleicht morgen noch einmal anrufen dürfe. Du kannst es ja versuchen, sagte sie. — stop
Aus der Wörtersammlung: freund
blackout
himalaya : 20.58 UTC — Folgende freundliche Darstellung zweier sich zugewandter Gesichter, liegend, in einfachsten Zeichen Buchstabenzeichen dargestellte, sind den Suchmaschinen Yandex, Bing und Goggle zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt: :-)(-: * Aber die Zeichenfolge :-) (-: Seltsame Geschichte. — stop
nachts
sierra : 3.02 — Louis bat mich, eine Geschichte zu erzählen vom Glück als ich noch ein Kind gewesen war. Ich musste nicht lange überlegen. Ich sagte, dass ich abends, sobald das Licht in meinem Zimmer ausgeschaltet wurde, heimlich in meinen Büchern gelesen habe. Zu diesem Zweck hatte ich eine Taschenlampe unter meinem Kopfkissen versteckt. Ich las immer im Sitzen, die Beine verschränkt, Jules Vernes zum Beispiel. Aufregend, nicht nur die Bücher, sondern das verbotene Lesen zur Nachtzeit selbst. Während ich Louis von meinem Glück berichtete, erinnerte ich mich, wie mein Bruder, der in demselben Zimmer geschlafen hatte, einmal erzählte, ich, der Ältere, habe zur Sommerzeit wie ein leuchtender Berg ausgesehen, der sich manchmal bewegte. Hin und wieder, ich erinnere mich, flackerte das Licht, weil die Kraft der Batterien in der kleinen Lampe zur Neige ging. Ich musste dann immer ein wenig warten, bis sich die Batterien wieder erholten. Oft war ich in dieser Zeit des Wartens noch im Sitzen eingeschlafen. Da lachte Louis, vermutlich, weil er sich erinnerte.- stop
regen
zoulou : 18.07 UTC — Ein Freund erzählte von einer kleinen Rede, die er an einem späten Sommerabend auf einem Anrufbeantworter vorfand, als er nach Hause gekommen war. Diese kleine liebevolle Rede war von seiner sterbenskranken Frau kurz vor ihrem Tod im Hospital für ihren geliebten Mann gesprochen worden, während er gerade auf dem Fahrrad von ihr zurück nach Hause fuhr. Es hatte geregnet. Er saß in der Küche im letzten Licht des Tages. Er erzählte, er habe lange Zeit geweint, sich die Rede immer wieder angehört, dann beschlossen, die Stimme seiner geliebten Frau mittels eines Tonbandes aufzunehmen. Irgendetwas muss kurz darauf geschehen sein, wovon er nicht berichten wollte. — stop
abend mit fliege no 2
bamako : 22.58 UTC — Denkbar ist, dass ich mir in wenigen Minuten die Gegenwart einer Fliege so sehr wünschen werde, dass mich kurz darauf tatsächlich eine Fliege in der Vorstellung begleiten wird, als wäre sie eine Freundin der Luft, die mir nicht von der Seite weichen möchte. Für Sekunden wird sie wirklich geworden sein. Ich höre sie bereits jetzt, vielleicht weil ich mich, während ich über meinen Fliegenwunsch nachdenke, an Fliegen erinnere, wie sie mir um den Kopf herum brummen oder pfeifen. Kurz darauf, werde ich mich, wie gestern Abend noch geschehen, vor meine Schreibmaschine setzen und eine Geschichte von einer brummenden Fliege schreiben, wie sie mich von einem Zimmer in das Zimmer gehend in Kopfes Höhe fliegend begleitet. In dieser Sekunde, da ich von ihr erzähle mit den Tasten, wird deutlich, dass sie nicht existiert, und doch kann ich sie hören mit dem Kopf, ein Oszillieren zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Jetzt hab ich einen Knoten im Kopf, den 14. Buchstabenknoten seit ich an dieser Stelle notiere. — stop
teriberka
whiskey : 20.01 – Ich erinnere mich an Ludwig, er war gerade 8 Jahre alt geworden, als er beobachtet wurde, wie er eine Schuhschachtel vor das Fenster seines Zimmer stellte, um 1 Stunde lang das Licht eines frühen Nachmittages einzufangen. Er wendete in dieser Stunde nicht eine Minute seinen Blick von dem Behälter, den er sodann sorgfältig mit ernster Miene verschloss, um ihn noch an dem selben Tag mit seiner Mutter zu einem Postamt zu bringen. Das ist für meinen Freund Janos, erklärte Ludwig dem Beamten, der bei der Verfertigung einer zollamtlichen Erklärung behilflich war, 1 Stunde Sonne für meinen Freund, der in Teriberka weit im Norden in Russland wohnt. Ludwig wartet. Es hoffte dass er seinerseits zur Weihnacht vielleicht etwas Winternachtlicht geschenkt bekommen würde. Ich sollte Ludwig einen Brief schreiben. — stop
ein schneckenforscher
sierra : 20.15 UTC — Ein Freund erzählte, er habe endlich, nach langen Jahren unentwegten Sprechens, gelernt zu schweigen. Das Gespräch mit mir sei eine Ausnahme. Er habe Freude daran gefunden, nur selten und nur noch das unbedingt Notwendige zu sprechen. Deshalb lese er ein Buch nach dem anderen. Kurz darauf manchmal, eigentlich immer, schreibe er auf, was ihm die Stimmen in den Büchern erzählten. Er sagte, man könne Bücher, die man gelesen habe, nacherzählen. In dieser Weise würden doch ganz andere Texte entstehen, Texte, die sich mit den gelesenen Büchern unterhielten. Irgendwann lösten sich die Texte von den erinnerten Büchern. Manchmal wisse er nicht, mit welchem Buch er sich gerade schreibend unterhalte. Sobald er den Blick vom seinem Text lösen würde, wenn er auf den See hinausschaue und eine Schildkröte bemerke, sei er plötzlich in einer Spur gefangen, die von Schildkröten erzählte, oder von sich liebenden Schecken und ihren Forschern. — stop
winter
echo : 18.26 UTC — Wie Bernd L., ein guter Freund, mich in den Palmengarten führt. Es ist ein winterlicher Nachmittag, der Boden knirscht unter den Schuhen, und die Spatzen hocken zitternd vor den Gewächshäusern, weil sie sich einen Spalt erhoffen, durch den sie in die Wärme fliegen können. Ich trage einen Notizblock in der Manteltasche, den nehme ich heraus und einen Bleistift als wir ins Kakteenhaus treten. Jetzt gehe ich hinter ihm her. Mein lieber Freund berührt Kakteen an ihren Stacheln. Er ist sehr zart in dieser Bewegung, er spricht die Namen der Pflanzen vor sich her, ein Suchender, einer, der ein Wort wiederzufinden wünscht, das er vor drei Jahren in diesem Haus präzise erfunden hatte, ein Schutz- oder Passwort, das ihm verloren gegangen ist, er weiss, dass er das Wort am Ort seines Ursprungs wiederfinden wird. Er muss das Wort unbedingt wiedererkennen, die Texte seiner Schreibmaschine sind verschlüsselt, sie sind da und zugleich nicht, sind sichtbar, aber nicht lesbar. Hier muss das Wort sein, irgendwo. Und ich, der ich meinem Freund Bernd folge Schritt für Schritt ganz leise, würde das Wort unverzüglich notieren, sobald wir es gefunden haben werden. Soweit sind wir schon, wir können sagen, es existieren im Wort auch Zahlen. Manchmal komme eine Ahnung auf, sagt Bernd, das Gefühl eines Wortes flattere durch seinen Kopf wie ein Sperling. Es ist Samstag und wie gesagt, es ist ziemlich kalt und die Bäume glitzern. — stop
eine stimme
sierra : 14.15 UTC — Regen und Sonntag. Ich hatte Mutter angerufen. Sie war unterwegs gewesen, vielleicht im Garten, vielleicht in den Bergen. Nach 10 Sekunden schaltete sich der Anrufbeantworter an. Eine Stimme, die die Stimme Mutters war, meldete vertraut: Hier ist der Anschluss von Paula und Jürgen. Ich sagte sofort meinen kleinen Spruch auf: Hallo, seid Ihr zu Hause? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es regnet. Als mein Vater gestorben war, hatte ich immer wieder einmal gedacht, wie seltsam ist, dass meine Mutter, solange sie nicht bei sich selbst anrufen wird, nicht bemerken würde, dass ihre Begrüßung anrufende Freunde irritieren könnte. Ich überlegte, ob ich Mutter nicht vielleicht bei Gelegenheit darauf aufmerksam machen sollte, dass wir eine weitere Tonbandaufnahme anfertigen könnten. Der Eindruck unverzüglich, ich würde meinen Vater durch diese Handlung distanzieren, einen Geist hinauswerfen aus dem Haus, in dem er weiterlebt in seinen Spuren, in unseren Erinnerungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Computer. Und da sind seine Gartenschuhe, seine Schallplatten, seine Bücher und im Teich werden bald wieder Rosen blühen, Seerosen, weiß und rosa, die vor langer Zeit einmal von seiner Hand ins Wasser gesetzt worden waren. Ja, so war das gewesen. Heute wieder Regen und Sonntag. Und da sind nun Mutters Sommerschuhe verwaist und ihre Winterstiefelchen neben der Tür zum Garten. In einer Schublade in der Küche werde ich bald Mutters Bleistifte finden und Mutters Brillen und Rezepte von eigener Hand für Kuchen und Plätzchen für das Weihnachtsfest vor zwei Jahren. In einer weiteren Schublade ruhen ihr Reisepass, ihr Geldbeutel, ihr Telefonbuch, Broschen und Wanderkarten durch die Wälder am See. Und da ist ihre helle Stimme, ich weiss, dass sie im Telefon zu warten scheint, eine Stimme, die noch möglich ist. — stop
s.alvise
nordpol : 15.55 UTC — Heute Morgen ist mir etwas Seltsames mit mir selbst passiert. Ich war nämlich Einkaufen in einem Supermarkt. Eine alte Dame, sehr freundlich, weckte mich, in dem sie mir erklärte, wo genau ich Plastikhandschuhe finden könne, um Apfelsinen oder Melonen in meine Hände nehmen zu dürfen. Ich muss mich schlafend nach Handschuhen erkundigt haben oder aber habe Äpfel und Birnen barhändig berührt. Die alte Dame war sehr fürsorglich und leise, als ob sie seit Jahrhunderten mit schlafenden Menschen im Supermarkt Umgang pflegte. Ich kaufte für zwei Tage Obst, Krabben und Linsen, und auch etwas Wasser und Kaffee, trat dann aus dem Supermarkt hinaus in die warme, helle Sonne, ein Vaporetto fuhr in wenigen Metern Entfernung an mir vorbei, und ich sah sehr deutlich mich selbst an Bord des Schiffchens stehen, wie ich vielleicht gerade die Echolotfolgen einer Twitternachricht beobachtete, welche ich eine Stunde zuvor gesendet hatte. Eine Eidechse flitzte über uraltes Plfaster landeinwärts, zwei junge Seemöwen warteten pfeifend auf die Ankunft ihrer Eltern, und das Wasser zu meinen Füßen blinkte, als sendete es Botschaften irgendwohin. Nachmittags dann war ich spazieren im Cannaregio. Ich glaube ich habe ein Haus entdeckt, das über keinerlei Türen verfügt, oder aber vielleicht über eine Tür auf dem Dach, eine Dachtür. Ob vielleicht in dieser merkwürdigen Stadt Menschen existieren, die zu fliegen in der Lage sind? — stop