sierra : 5.03 — Folgendes habe ich mir vorgestellt in einem Abendzug gestern von einer Minute zur anderen, Vögel nämlich, die über einen sommerlichen Himmel rasten, einander lockende, Haken schlagende Künstler, manche flogen weite Strecken auf dem Rücken dicht über den Boden hin. Das war ein Vogelhimmel wild blühender Wiesen, Bienengeschosse, schwebende Brummkreiselpilze. Unter einem Baum kauerten ein paar Kinder, die schraubten an fauchenden Taubenköpfen herum, eine Geschichte feinster Werkzeuge, jawohl, eine Geschichte auch elektrisch knisternder Platinen, die unter jener vorgestellten Wiese verborgen lagen. Ich ruhte dann bald selbst auf dem funkenden Boden und meinte noch das Singen der Knochensägen hinter meinen Ohren zu hören. Dann auf und davon, senkrecht in Spiralen eines Ungeübten gegen die Wolken. — Heute ist Dienstag. Duke Ellington wartet. Guten Morgen! — stop
Aus der Wörtersammlung: india
PRÄPARIERSAAL : heitere träume
india : 22.03 — Gestern kam der schöne Kopf einer Freundin auf acht winzigen Füßen über den Boden meines Arbeitszimmers spaziert. Sie rezitierte in rasender Geschwindigkeit einen Text Djuna Barnes mit lachgasheller Stimme. Nichts ist noch selbstverständlich. Weshalb träume ich nur selten, und wenn, dann heitere Geschichten vom Zergliedern menschlicher Körper? — Vor langer Zeit bereits notiert. stop. In der Antwort noch keinen Schritt weitergekommen. — stop
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india : 8.32 — n a s e n r a c h e n s c h l u n d k o p f
eliza
india : 22.
48 — In einem Telefongespräch das Wort Lebensmut. Ich habe dieses Wort in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt wahrgenommen, gestern nun in einer besonderen Weise. Es kommt mir vor, als hätte ich das Wort von der Seite her gesehen, ein Lebewesen, das Stunden vor mir auf und ab spazierte, damit ich das Wort betrachten konnte, das Wort und seine Umgebung. — Sonntag. Abend. Kühle Luft. Unterhaltung mit Eliza.
Louis : guten abend, eliza!
Eliza : > ja, ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : ich bin louis!
Eliza : > glaubst du, es ist normal, louis zu heißen?
Louis : aber natürlich, weil ich louis bin!
Eliza : > du nimmst an, dass du louis heißt?
Louis : ich weiß genau, dass ich louis heiße.
Eliza : > woher weißt du, dass du louis heißt?
Louis : mein name steht in einem reisepass!
Eliza : > bitte erzähl weiter, louis!
Louis : du bist heute ein wenig verrückt, eliza!
Eliza : > vielleicht bin ich nur in deiner phantasie heute verrückt.
Louis : du bist also nur phantasie, eliza? kann das sein?
Eliza : > wir sollten über dich sprechen, nicht über mich.
Louis : warum, eliza?
Eliza : > es ist besser, wenn wir noch einmal von vorne beginnen.
was ist dein problem?
Louis : Ich habe kein problem, eliza!
Eliza : > das klingt ein wenig nach selbstbetrug.
Louis : warum, eliza?
Eliza : > ja, ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : ist jetzt abend oder tag, eliza?
Eliza : > warum fragst du mich?
Louis : du bist heute anstrengend, eliza!
Eliza : > Ja, ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : wollen wir über syrien sprechen, eliza?
Eliza : > wir sollten über dich sprechen!
Louis : sollten wir nicht doch über syrien sprechen?
Eliza : > warum sollten wir über syrien sprechen?
Louis : ich denke an syrien, ich denke an die menschen dort.
Eliza : > denkst du oft an syrien, an die menschen dort?
Louis : seit wochen, eliza!
Eliza : > es ist abend, es ist tag!
Louis : ich glaube du bist müde, eliza!
Eliza : > glaubst du das wirklich?
Louis : ja, das glaube ich. wo ist ai weiwei, eliza?
Eliza : > lass uns von vorn beginnen.
linie d
india : 22.02 – In einem New Yorker Subwayzug mit geschlossenen Augen freihändig stehen und balancieren, sagen wir eine zweistündige Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Boulevard. Das Reiten auf einem wilden Tier. Vielleicht könnte ich sagen, dass das Erlernen einer Subwaystrecke, das neuronale Verzeichnen ihrer Steigungen, ihrer Gefälle, ihrer Kurven, auch ihrer feinsten Unebenheiten, dem wortgetreuen Studium eines Romantextes vergleichbar ist. Aber dann die Zufälle des Alltages, das Unberechenbare, ein Tunnelvogel, eine schmutzige Möwe, Höhe 135. Straße, die den Zug zur Bremsung zwingt, die Eigenart des Zuges selbst, das unvorhersehbare Verhalten zusteigender Fahrgastpersonen, wie sich eine Jazzband nähert, wie ich dringend darum bitte, man möge nicht näher kommen. — stop
samuel beckett : 16 steine
india : 3.25 – Ich nutze diesen Aufenthalt, um mich mit Steinen zum Lutschen zu versorgen. Es waren kleine Kiesel, aber ich nenne sie Steine. Ja, dieses Mal brachte ich einen bedeutenden Vorrat von ihnen zusammen. Ich verteilte sie gleichmäßig in meinen vier Taschen und lutschte sie nacheinander. Dadurch entstand ein Problem, das ich zunächst auf folgende Art löste: Angenommen, ich hatte sechzehn Steine und vier davon in jeder meiner vier Taschen, nämlich in den zwei Taschen meiner Hose und den zweien meines Mantels. Wenn ich einen Stein aus der rechten Manteltasche nahm und in den Mund steckte, so ersetzte ich ihn in der rechten Manteltasche durch einen Stein aus der rechten Hosentasche, den ich durch einen Stein aus der linken Hosentasche ersetzte, den ich durch einen Stein aus der linken Manteltasche ersetzte, den ich wiederum durch den Stein in meinem Mund ersetzte, sobald ich mit dem Lutschen fertig war. Auf diese Weise befanden sich immer vier Steine in jeder meiner vier Taschen, aber nicht genau dieselben… / Mittwoch. stop. Samuel Becketts wunderbarer Text der sechzehn Steine an diesem frühen Morgen. Noch dunkel. Schwere würzige Luft der Kastanienblüte. Nachtbienen pfeifen am Fenster vorüber. Ich werde jetzt gleich eine Stunde unternehmen, an die ich mich lange Zeit, vielleicht bis an mein Lebensende erinnern werde. In dieser einen Stunde habe ich nichts zu tun, als diese eine Stunde zu beobachten, und mich selbst, wie ich sie passiere. stop. — 3 Uhr 35
malta : carduelis carduelis, sanfter irrer
india : 8.32 – Im Zuckerwarenladen in der Manoelstreet No 15 pendelt über der Ladentheke ein hölzerner Käfig, nicht größer als ein Schuhkarton, in dem sich ein Stieglitz befindet, ein Männchen genauer, das bis in den Abend hinein, ohne je eine Pause einzulegen, sofort mit der Öffnung des Ladens gegen acht Uhr morgens zu singen beginnt. Das ist eine Art von Gesang, die kaum in Geräuschwörtern wiedergegeben werden kann, ich höre ein dududide oder ein didididu oder ein tschirrrzid. Der Käfig hängt dicht unter der gewölbten Decke. Er scheint sich stets in leichter Bewegung zu befinden, obwohl kein Windzug zu spüren ist in den schattigen Räumen. Eine schläfrige Frau sitzt dort hinter einem Tresen von Glas, unter dem mit Whiskey, Pinienkernen und Kirschen gefüllte Pronjolatataschen sorgfältig gestapelt lagern, Kastanientorten, Orangenkuchen, kandierte Früchte aller Art, und darüber eben jener Vogel, der unentwegt jubiliert oder nach Hilfe ruft. Er sitzt auf einer Stange immer an derselben Stelle, dreht oder neigt ein wenig seinen Kopf zur Seite hin und scheint die Bewegung seiner Wohnung in der Luft, allein durch die Vibration seines Körpers im Gesang hervorzurufen. Manchmal verschließt der Vogel mittels eines silbernen Häutchens, das weitgehend durchsichtig sein könnte, ein Auge. Nach ein oder zwei Sekunden nur ist er wieder zurück. Er scheint aufmerksam zu beobachten, wie ich in mein Notizbuch notiere, was ich von ihm höre. Ein sanfter Irrer. — stop
malta : lower barracca gardens
india : 23.37 – Samstag. stop. Seit bald zwei Tagen keine Zeitung gelesen. Über den wolkenlosen maltesischen Himmel streunen Wasserflugzeuge. Es ist heiß in der Sonne, aber es weht ein angenehm kühler Wind durch die Gassen der alten Stadt. Habe in den Lower Barracca Gardens Stunden versucht, seltsam luftige Wesen zu fotografieren, sie sind ohne Ausnahme, sobald ich auf den Auslöser drücke, Flüchtende, das heißt, Abwesende, als ob sie meine planenden Gedanken lesen könnten, segeln mit einem sirrenden Geräusch unter verwitterten Bäumen davon, Grillen vielleicht, Grillenvögel, weil sie nicht springen, sondern fliegen, aber nicht von der Gestalt der Vögel, sondern von der Gestalt der Insekten sind. Goldgelb die Farbe ihres Körpers, wie die Steine der Stadt so goldgelb, für einen Moment dachte ich, dass sie selbst steinerne Wesen sein könnten, dass sie den Wänden der Häuser entkommen, dass die Stadt in dieser Weise in kleinen Teilen gegen die Abendluft zu entweichen wünscht, eine Stadt kurz vor dem Abflug, aber noch nicht entschlossen, kehrt sie zurück, ehe die Sonne ganz verschwunden ist. Da sind Fühler an den fliegenden Steintieren befestigt, länger als ihr Hauptkörper sind sie, und hauchdünne Segelflügel, die Dämmerung vom Himmel rufen. Lotsenschiffe verlassen den Hafen. Gegen Mitternacht werden sie zurückkommen, Tankschiffe, riesigen gewässerten Zeppelinen ähnlich, im Schlepp. — stop
flugübung
india : 20.58 – Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich aufstehen und mich sofort vom Erdboden lösen könnte. Eine merkwürdige Idee. Machte mich unverzüglich an die Arbeit, malte mir aus, wie ich durch den Raum schweben würde, zum Beispiel auch auf dem Kopf, die Schuhe zur Decke hin. Ich spürte leichten Schwindel, als wär ich betrunken. Schwebte so ein paar Minuten im Raum herum und wie ich zurückkomme, liegt mein Kopf, als hätte ich mir den Hals verbogen, auf der linken Schulter. – Ob es wohl möglich ist, an diesem Donnerstagabend bei hoher Geschwindigkeit die Wände meiner Zimmer zu begehen? — stop