india : 18.08 UTC — Morgens im Pendlerzug skizzierte ich einen Flugdrachen, wie ich sie der Form nach von meiner Kinderzeit kenne. Neben mir hockte zufällig ein Mädchen, das meine Hände beobachtete, auch meinen kleinen Computer, auf dessen Glasscheibe ich zeichnete mit einem Stift, der für dieses digitale Zeichnen ausgedacht worden ist. Ich habe einen Drachen, sagte das Mädchen plötzlich, er ist viel größer als dieser da. Ich fragte, welche Farbe ihr Drache denn haben würde. Das Mädchen antwortete: Rot und Blau. Warum ist Deiner nicht bunt, fragte das Mädchen. Ich sagte: Weißt Du, ich überlege, ob man einen Drachen bauen könnte, der aus Eis gemacht ist, aus Schnee, ein Schneedrachen, der fliegen kann? — Bestimmt, sagte das Mädchen, das geht! Das Mädchen schwieg kurz, dann verdrehte es die Augen. Verrückt, sagte es, das ist schon verrückt, er kann aber nicht fliegen, weil wir im Winter keine Drachen steigen lassen. Da machen wir andere Sachen, aber weil es ohnehin nicht schneit, könnten wir doch mal einen Schneedrachen bauen. Claro! — stop
Aus der Wörtersammlung: pendler
kamelschnellbahngeschichte
marimba : 6.28 UTC — Der junge Mann, der mir eine Geschichte von Kamelen erzählt, ist 22 Jahre alt. Er trägt ein leuchtend blaues Hemd, das sieht gut aus, weil seine Hautfarbe dunkel ist, weil er ein Mann ist, der tatsächlich aus Afrika kommt, der aus Afrika geflüchtet ist, obwohl er ganz sicher nicht aus Afrika flüchten wollte. Wäre er nicht aus der Not heraus geflüchtet, mit Zügen und Bussen und zwei Flugzeugen, dann wäre er jetzt tot. Weil er nicht tot ist, sitzt er mit mir in einer Schnellbahn und wir sprechen kurz über sein Land, das ich unbedingt einmal besuchen werde, wenn es dort so sein wird, dass man mich nicht sofort umbringen wird. Der junge Mann kommt aus Somalia, sein Großvater hütete Kamele. In seiner Kindheit trank er immer viel Kamelmilch. Es gibt, sagt er, nichts Gesünderes auf der Welt als Kamelmilch. Sie schillert nicht wie die Milch der Kühe, sie ist etwas bitter und süß zur gleichen Zeit. Er sagt noch, dass er gerade sein Geld zähle, er wolle nach Afrika reisen. In Afrika angekommen werde er so viel Kamelmilch trinken, wie in seinen kleinen Bauch überhaupt jemals hinein passen wird. Und jetzt ist die Schnellbahn am Ziel, und der junge Mann steigt aus. Ich sehe noch seine Hand, wie sie mir winkt über die Köpfe der Pendlermenschen hin. — stop
helsinki turku
zoulou : 0.05 — Einmal folge ich einem Mann namens Nuuri durch einen Zug, der sich sehr langsam von Helsinki nach Turku bewegt, es schneit. Der Mann, der stets eine helle wollene Mütze trägt, ist den Pendlern, die ihre Samstage und Sonntage in Turku verbringen, gut bekannt, sie scheinen nur darauf zu warten, seine heisere Stimme bald hören zu können: Wolken! Wolken! Das Stück Wolke zu 50 Cent zu verkaufen. Wer Nuuri nicht bereits einmal erlebte, wird vermutlich meinen, ein sehr seltsamer Mensch wandere durch die Abteile des scheppernden Zuges. Aber das würde ein Irrtum sein, Nuuri verkauft tatsächlich sehr kleine, wirkliche Wolken von Wasserdampf. Sie schweben über Baumminiaturen, welche dicht an dicht aus Fächern wachsen, die Nuuri mittels eines Bauchladens vor sich herträgt. Ein feines Netz gläserner Fäden ist wie eine Kuppel über der wilden Landschaft aufgespannt. Sobald man sich mit Augen, Ohren, Nase nähert, wird man wispernde Affenstimmen vernehmen, Vögel sind zu erkennen, die über Baumwipfel kreisen, und ein Panther so groß wie eine Ameise, der sich auf einer Lichtung wälzt. Und eben Wolken, Wolken, die man kaufen kann, sie blitzen und knallen von Zeit zu Zeit, es duftet sofort nach Schwefel, nach einem Löffel voll glimmenden Schwefels. Sobald man nun eine Wolke zu kaufen wünscht, eine Wolke zu 50 Cent, gebe man ein Handzeichen. Nuuri wird dann unverzüglich Platz nehmen, ein freundlicher Mensch. Er wird sich erkundigen, welche Wolke es denn sein soll. Und während man nun unter den Wolken, es sind viele, eine geeignete Wolke suchen wird, wird Nuuri von Turku und vom winterlichen Eis auf dem Meer und der Stille im Ohr erzählen, und wie es überhaupt möglich sein kann, einen Ameisenpanther zu füttern. — Ende der Wolkengeschichte. — stop
fingersträußchen
delta : 6.22 — Über Nacht war alles wieder nachgewachsen. Meine Hände blühten. Ich machte mich auf den Weg südwärts durch Manhattan zu den Fähren hin. Am Tresen einer Schiffskantine wartete bereits Mr. Melrose, überreichte mir einen Becher Kakao. Als er meine blühenden Hände entdeckte, fütterte er mich höchstpersönlich mittels eines Teelöffels. Schenkte ihm zum Dank einen meiner Finger, machte mich dann auf meinen täglichen Weg über das Hurrikanedeck, sprach all die wartenden Pendlermenschen freundlich an, zeigte ihnen meine Hände, die als solche nicht zu erkennen waren, weil sie Fingersträußen ähnelten. Man muss sich das vorstellen, an jeder Hand trug ich 20 bis 30 Fingerexemplare, die meisten waren Mittelfinger, Daumen waren keine darunter. Sobald ich an einem der Finger zog, löste er sich, so dass ich ihn weiterreichen konnte. Für jeden Finger bekam ich 5 Dollar. Ich erinnere mich nicht, je Schmerz empfunden oder geblutet zu haben. Vielmehr empfand ich Vergnügen, Freude, Lust. – Dieser Traum wurde so oder ähnlich geträumt, kurz vor vier Uhr in der vergangenen Nacht. — stop
east village : gehschläfer
marimba : 0.18 — So, stelle ich mir vor, könnte das sein. Es ist Abend geworden, Zeit das Büro zu verlassen. Man tritt vor das Gebäude, in dem man seine Tage fristet, setzt sich ein elektrisches Häubchen auf den Kopf und schon schließt man die Augen und schläft und geht in dieser Weise schlafend auf Wegen nach Hause, die für schlafende Menschen vorgesehen sind. Niemand würde je auf die Idee kommen, einen schlafenden Pendler zu wecken. Drei Stunden, sagen wir, im Tiefschlaf schreitet man die 5th Avenue downtown, biegt bald in die 23. Straße ein, folgt ihr, weiß der Himmel wovon man gerade träumt, bis zur 1st Avenue, um kurz darauf in der 20. Straße zu landen, Haus No 431, dort wird man geweckt und findet sich im Aufzug wieder, wie frisch gebadet im Kopf, um eine Nacht reicher geworden, zu feiern, zu lieben, mit Kindern zu spielen. Am nächsten Morgen macht man sich wieder auf den Weg, setzt sich sein Häubchen, und auch die Kinder setzen sich ihre Häubchen auf den Kopf, und so weiter und so fort. Irgendwo sollte eine zentrale Station existieren, die Schlaf und Schritte jener schlummernden Menschen steuert. — stop
mann ohne mund
tango : 22.16 — Dreifach einem Mann ohne Mund begegnet, jedes Mal unter der Lexington Avenue gegen den Abend zu fahrend, wenn sich die Züge füllen mit Pendlern in alle Richtungen des Himmels. Das Pfeifen der Luft, die den Saum einer Öffnung am Hals des Mannes in Schwingung versetzt, ich hörte es in nächster Nähe, ich hörte es im Traum, ich erinnerte es bei einer zweiten Begegnung sofort, als wäre das pfeifende Flattern eine Stimme, da war er noch entfernt, da sah ich sein zerstörtes Gesicht durch die Menge der Reisenden näherkommen, sah seine gleichwohl vom Feuer versengten Hände, rosa leuchtende Haut da und dort, die Ahnung einer Nase, sein Auge, das letzte, gerötet von der Anstrengung und vom Ausdruck der Dankbarkeit, mit dem er jeden unter der Stadt reisenden Menschen bedachte, sobald er sich Davids Geschichte lesend näherte, sprechenden Fotografien vor einer ruhig atmenden Brust: Ich, ich habe in Bagdad mein Gesicht verloren in einer Sekunde an einem Abend wie diesem Abend, in einem Sommer wie diesem Sommer. Und wie er jetzt weitergeht, wie er die Stille mit sich nimmt. Auch ich habe kein Wort zu ihm gesagt, als ob ein Mann ohne Mund nicht hören könne. — stop