ginkgo : 7.03 UTC — Der Mann versteht nicht, warum ich ihm einen ängstlichen Blick schenke. Er steht am Rande der Leipzigerstraße und ruft: Himbeeren 1 Euro, Himbeeren 1 Euro. Er brüllt diese Formel Stunde um Stunde mit seinem Atemwind unter die passierende Leute, Passanten, und wenn man nun denkt, er könnte ein infizierter Sänger sein, dann wird man bemerken, dass es gefährlich sein könnte hier ohne Maske, ohne Brille über die Straßen zu spazieren. Und im Café diese nette lauthals telefonierende Person: Mein Gott, sagt sie zur Liesel, wenn das nur ein Weihnachten nicht wird mit einem Lockdown schon wieder! Wenn sie einmal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Winde, die alles das Unsichtbare sehr schön durch die Räume tragen, Luftbusse fahren herum, Zeppelinwolken. Es ist schon seltsam was man alles so sieht und hört neuerdings. — stop
Aus der Wörtersammlung: sichtbar
jagende lichter
echo : 23.58 UTC — Im Park am Abend in der Dunkelheit unter Regenschirmen unsichtbare Menschen, paarweise oder allein. Und da flitzen Lichter herum, grün, blau oder rot leuchtende Reifen oder blinkende Perlketten, die die Position spielender Hunde vermerken. Man möchte meinen, dass sie ferngesteuerte Kreaturen sind, die sich jagen nach dem Willen jener im Dunkeln stehenden schweigenden Menschen. Ich dachte noch, in Brooklyn sollen Feuer entzündet worden sein, um Masken zu verbrennen. Der Wahnsinn bricht aus jenseits ruhigen, vernünftigen Handels, Menschen dicht gedrängt wie Ameisen. Kaum noch ein Gespräch ist möglich, ohne sich gefährlich nahezukommen. Aber hier im Park am Abend unter Regenschirmen sind die Räume weit, das Gespräch der ahnungslosen unsichtbaren Tiere, die ihren Lichtschmuck über die Wiesen tragen. — stop
hamstern
india : 21.20 UTC — In einer Abendsekunde, da ich Kontakt zu ihm aufnehme, hebt er seinen müden Blick von dem Scanner, der unter einer rötlich schimmernden Scheibe von Glas verborgen liegt, über die er Waren zieht, die er selbst noch von eigener Hand in Regale räumte, die er selbst noch von Staub befreite, den er selbst nicht in diesen Supermarktladen eingeführt haben konnte in dieser Menge, dieser Staub muss an Füßen der Kunden hereingekommen sein, ein Staub der immerhin sichtbar ist, bei Gott, ist das doch gut, dass noch Wesen existieren, die sichtbar sind, sichtbar für menschliche Augen, nicht unsichtbar wie jene kleinsten Partikel, die Menschenwesen auf diesem Erdball hinter Maskentücher zwingen, sodass sie sich ähnlich werden, diese Menschenwesen überall sich ähnlich werden in ihrer Schutzbedürftigkeit, ähnlich, ob sie nun hinter roten, gelben, blauen oder schneeweißen Masken sich zu verbergen haben, um nicht vielleicht sterben zu müssen, bei Gott, Menschen eben. Er hebt den Kopf in diesem Moment, da ich Kontakt zu ihm aufnehme, da ich sage, sie hamstern wieder, nicht wahr, es wird Herbst und sie hamstern wieder, Teigwaren, Taschentücher, und diese Dinge, hamstern und streiten vor den Regalen, nicht wahr. Und da sagt er, dass das ein Krieg sei, dass eigentlich das Militär hier auf diesem seinem Platz zu sitzen habe, der Katastrophenschutz, weil diese Scheibe von künstlichem Glas, ihn doch niemals schützen könne, weil hier das Unsichtbare herumfliege, all diese Sachen, die das Fieber bringen, da kann man nur warten, warten, warten. — stop
luftwellen
tango : 17.11 UTC — Traf ahnungslose Personen, traf sorglose Bürger, die unbeschwert sind oder nur vorgeben, unbeschwert zu sein. Morgen werde ich sie wieder treffen in der Straßenbahn, in einem Cafe, am Flughafen. Sie werden mich kaum ansehen, mich, der eine Maske trägt. Noch immer, das ist denkbar, denken sie sich, scheint Gefahr in der Luft zu liegen, unsichtbare, staubige Wölkchen. Der Mann hier trägt noch immer eine Maske, vermutlich ist er hysterisch. Vermutlich deshalb fürchten sie meinen Anblick, weil ich, indem ich spreche, sie mit meinen Augen, mit meiner unsichtbaren Nase, meinem unsichtbaren Mund, meinen Gedanken, die sich mittels Wellen durch die Luft bewegen, beschweren oder infizieren könnte. — stop
taschkent
nordpol : 9.18 UTC — Eine Dame sitzt mit hellrot geschminktem Mund an einem Holztisch in einer Wohnung der Stadt Taschkent. Es ist später Nachmittag. Auf dem Tisch ruht eine Schreibmaschine, ein Notebook, das hat ihr die Tochter geschenkt, die in Amerika wohnt, in Brooklyn genauer, im vierten Stock eines Hauses mit Blick auf den East River. Dort ist jetzt früher Morgen. Die Tochter, die wie ihre Mutter in der Ferne vor einem Notebook, einer Schreibmaschine, sitzt, freut sich, weil sie auf einem Bildschirm das Gesicht ihrer Mutter sehen kann. Endlich hat es funktioniert, das Programm, der ganz Computer überhaupt, ihre Mutter kann ihn jetzt einschalten, und das Programm starten, das eine Verbindung knüpft nach New York, sodass sie ihrerseits auf dem Bildschirm der Mutter sichtbar werden kann. Die Tochter lächelt, gerade hat ihr die Mutter erzählt, sie habe einen leicht amerikanischen Akzent entwickelt nach Jahren ihres Lebens in New York. Aber sie spricht nicht viel in diesen ersten Momenten einer Begegnung auf dem Bildschirm. Sie will ihre alte Mutter nicht überfordern, sie sagt: Jetzt können wir telefonieren sooft wir wollen, es kostest fast nichts. Die Mutter schaut glücklich zu dem Bildschirm hin. Sie könnte das Gesicht ihrer Tochter berühren, aber sie will nichts tun, das seltsam erscheinen könnte, weil sie nicht allein ist. Unsichtbar für die Tochter in Brooklyn zunächst, sitzt in einem sinnvollen Abstand eine junge Frau, eine Studentin, auf einem Stuhl, der knistert, sobald sie sich bewegt. Es ist nämlich so, dass die Studentin der alten Dame half, ihre Schreibmaschine in ein Telefon mit Bildschirm zu verwandeln, eigentlich zunächst nicht sehr schwierig für eine Studentin der russischen Literatur, ihrer Professorin beizustehen. Das Notebook musste jedoch derart verwandelt werden, dass es sich ohne ihre Hilfe jederzeit erneut in einen Telefon mit Bildschirm zurückverwandeln könnte, deshalb alles ganz langsam, vor und zurück, vor und zurück, Schritt für Schritt, was ein Fingercurser ist, was eine Maus. Die junge Frau kommt nun ins Bild, sie trägt einen Mundschutz, auch die alte Dame ziehen ihren Mundschutz vom Hals herauf. Beide lächeln, das kann die Tochter sehen. Und sie ist sehr beruhigt, dass ihre Mutter auf sich achtet in der Ferne, glücklich ist sie. Und so springt sie auf und eilt zum Fenster. Eine Minute Zeit vergeht. Die Möwe späht ins Zimmer. Da kommt die Tochter zurück zum Tisch, sie trägt jetzt gleichwohl einen Mundschutz in roter Farbe mit weißen Punkten darauf. — stop
im quarantänegarten
echo : 20.25 UTC — Der Wind fuhr heut mit einem Regenkamm übers Dach. Ich dachte an das Haus im Süden wo Mutter und Vater nicht mehr sind. Wie seltsam doch die Betrachtung der Kleider verschwundener Menschen. Schuhe. Halstücher. Hemden. Schmuck. Und der Garten, wie er wild wird, sobald man nicht immerzu an ihn denkt. Ein Teich, der weniger zu werden droht vom Schilf, von den Schneckenpanzern, vom Laub, von den Häuten der Libellenlarven. Wie viel die alten Menschen noch gearbeitet haben in ihrem hohen Alter wird hier unter den Bäumen sichtbar. Ihre Schuhe, ich fotografierte Schuhe. In einer Handtasche entdeckte ich Reiseproviant, Mutters Müsliriegel, Traubenzucker, Tempotaschentücher, Prospekte, einen Regenschirm, ein Halstuch, einen Lippenstift. Der Schmerz, der mir wie ein Blitz durch den Körper fährt, sobald ich daran denke, dass ich die alte Dame in ihrem Bett liegend nie wieder besuchen kann. — stop
im spielfilm
echo : 22.12 — Nervöses Spazieren, sondierende Blicke. Das Distanzieren brennt sich in den Kopf. In den ersten Tagen der Verordnung zu Abstand war noch Ernst gewesen, jetzt da und dort immer wieder ein Lächeln, ein leises Dankeschön, wenn man stillsteht, um Raum zu spenden. In einer zweifach um Ecken gefalteten Schlange stehen Menschen, sie warten in ein Postamt eintreten zu können. Wann habe ich in meinem Leben je so verharrt, geduldig, demütig, entspannt? Rotkopfschildkröten hocken an Stränden der Parkseen, ihre verwitterten Körper sind vollständig aus dem Wasser gekommen, als würden sie nach den Menschen jenseits der Zäune luren. Ein wunderbarer Frühling. Goldfarbene Stäube schweben durch die Luft, die so klar ist wie noch nie, seit ich denken kann, auch Spinnen an ihrer Seide, und all das Unsichtbare, das ich ein und wieder ausatme. An das Unsichtbare denken, das ist neu, dass das nichtsichtbare Gedanken beherrscht, auch die Träume. Litfaßsäulen meiner Straße sind weiß wie leer. Eine Fotografie auf einer Zeitung vor dem Kiosk zeigt Menschen, die von Apparaturen umgeben unbekleidet auf dem Bauch liegen. Im Spielfilm abends hocken Menschen im Kaffeehaus Seite an Seite und gegenüber, stecken ihre Köpfe zusammen und debattieren, sehr seltsam, sehr gefährlich, ich wollte etwas sagen. — stop
von ohren
alpha : 18.55 UTC — Ich glaubte lange Zeit, ein Mensch, der über sechzehn Ohrenpaare verfüge, müsse eigentlich über einen sehr guten Gehörsinn verfügen. Nun ist das aber so, dass jene Ohren, die auf den Oberarmen Jossi Kaukinens zu bewundern sind, über keinerlei Gehörgang verfügen, auch nicht über Trommelfelle oder Gehörknöchelchen oder Ohrtrompeten. Diese Ohren, die ich mit eigenen Augen gesehen habe in einem Sommer, da ich nach Finnland reiste, um Herrn Kaukinen und seine Ohren zu besuchen, sind lediglich die Muscheln der Ohren, Schallkörper, die Kaukinen zu züchten vermag, weil er weiss wie das geht. Er lebt davon, dass er frische Ohren gekühlt zu liefern in der Lage ist. Kaum ist ein Ohr auf Reisen gegangen, — sie fliegen meist mit einem Hubschrauber davon, wächst schon ein nächstes Ohr heran, eine Knospe bildet sich binnen weniger Stunden an genau jener Stelle, da zuvor ein ausgewachsenes Ohr entfernt worden ist. Diese Knospe ist zunächst nur mittels Mikroskopien sichtbar, aber schon drei Tage später kann man erahnen, dass ein weiteres Ohr heranwachsen wird, das gepflegt wird und vor dem Licht der Sonne beschützt. Herr Kaukinen schläft im Sitzen. Er sitzt also in seinem Bett von Gurten in Position gehalten und schläft und sieht sehr seltsam aus im Zwielicht, als würden Blumen von Fleisch sich auf seinen Schultern niedergelassen haben. Klingelt der Wecker sehr früh, wird es ernst. Dann nähert sich Kaukinens Frau mit etwas Watte und Werkzeug: Mein Liebling, heut ist wieder so ein Tag! — stop
von der reisenden warenwelt
kilimandscharo : 22.02 UTC — Ich dachte heute, in der Schweiz würden vielleicht Menschen existieren, die ich als Uhrenträger bezeichnen könnte. Uhrenträger, weil sie je 50 Uhren an Armen und Beinen dicht an ihren Körpern tragen. So, in dieser Weise von Uhrwerken geschmückt, geht man als Uhrenträger leise tickend vorsichtig spazieren, wandert in der schönen Natur herum, ohne selbstverständlich auch nur eine der Uhren je abzulegen. Auch im Schlaf werden alle Uhrwerke getragen, weshalb es in der nächtlichen Stille in den Zimmern leise rauscht. Nach ein oder zwei Wochen kehren Uhrenträger dann aus dem Leben in ihre Uhrenfabrik zurück. Dort sind sie nämlich angestellt, um vollständig neue Uhrgeschöpfe in bereits gebrauchte Ware zu verwandeln, warum? — stop
vom spinnen
sierra : 15.42 UTC — Noch 3927 Wörter und ich werde an dieser Stelle eine halbe Million Wörter notiert haben. Das Zählen der Wörter wurde meiner Schreibmaschine überantwortet. Ich selbst zähle Herzschläge, Eichhörnchen, Hitzewellen, Zeiträume, Schritte, Briefmarken, Stunden und Tage, Lesezeiten, auch Springspinnen, die meinen Schreibtisch bewohnen. Springspinnen gebieten über 8 Augen. Sobald sie springen, ziehen sie einen kaum sichtbaren Faden durch die Luft. Ich selbst spinne Fäden von Gedanken. Auch Sätze sind möglicherweise als Fäden zu betrachten. Wenn ich erzähle, gehe ich auf die Jagd. Das ist denkbar. Heut ist Montag. — stop