echo : 18.22 UTC — Ein düsteres Haus, eine düstere Treppe. Ich klingelte vor Jahren einmal an einer Tür. Ein Mann, der nicht ganz jung gewesen war, öffnete. Kräftiger, bitterer Geruch strömte aus der Wohnung. Die Luft war warm, war feucht und dicht, meine Bewegungen, wie ich durch den Flur der Wohnung ging, mühevoll, als würde ich unter Wasser laufen. Ich trat in ein Zimmer, ein Tisch, ein Sofa, zwei Stühle, keine Vorhänge vor den Fenstern, hinter den Scheiben Kastanienbäume, die blühten. An den Wänden des Zimmers klebte eine Tapete mit Kirschmotiven. Sie war an der ein oder anderen Stelle von der Wand gefallen. Auf hölzernen Stangen, dicht unter der Decke, hockten hunderte Vögel ohne Federn. Ihre Haut war von hellem Braun, ihre Schnäbel zitronengelb. Der Mann, der mich in das Zimmer geführt hatte, nahm einen der Vögel in seine Hände. Der Vogel lag auf dem Rücken ganz still. Er hatte seine Augen geschlossen, feine hellblaue Häutchen wie Schirme. Ich sollte an dem Vogel riechen, und so nahm ich ihn in die Hand. Der Leib des Vogels war warm. Er zitterte als ich mich mit meiner Nase näherte, als würde er frieren. Der Mann, der mich an das Zimmer der Vögel geführt hatte, sagte, dass sie noch nicht ganz reif seien. Der Vogel duftete nach gebrannten Mandeln. In einer Ecke des Zimmers auf dem Boden ein Schallplattenspieler, ein uraltes Gerät, das Tommy Dorsey spielte: I’m Getting Sentimental Over You. — Das Radio erzählt, Ende März sei in Mariupol ein Historiker, der zu seiner geliebten Stadt ein Leben lang notiert hatte, in hohem Alter gestorben. Kurz zuvor endete das Leben seiner Frau. Die Todesursache beider Menschen, so das Radio, sei noch unklar. — stop
Aus der Wörtersammlung: arm
eiszimmer
nordpol : 18.32 UTC — Vor bald zehn Jahren habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plante im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. — Das Radio erzählte von Menschen, die sich in der Stadt Mariupol über Pfützen beugten, um Wasser von der Strasse zu trinken. — stop
lufteisschrift
charlie : 2.22 UTC — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Das Radio erzählt von einer Frau, die in einem Kaffeehaus der Stadt Kyiv sitzen und warten soll, dass ihr Sohn aus dem Kampf bald zurückkehren möge. — stop
krimlinie
nordpol : 15.12 UTC — In den vergangenen Tagen lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Asowregiment . aufpilzen . Bajonettmesser . Bellingcat . Berdyansk . Beschüsse . Clonodin . Doscht . Drohnenvogelschwarm . Elefantenmodellbauer . Evakuierungsgebiet . Evakuierungszonen . Ferghana . Funkmessfühler . Funkkommunikationsmodule . Gefechtsfeldbeleuchtung . Gefiederkarten . Halabuda . Hostomel. Krimlinie . Kirsjusha . Loznitsa . Lwiw . Marineinfanteriebrigade . Marineinfanterieeinheiten . Marineinfanterietruppen . Mariupolis . Mariupolstories . Maschinengewehrgeschosse . Maschinengewehrschüsse . Melitopol . Mobilfunkturm . Notfallkoordination . Panzerglaschiffe . prorussisch . Peskow . Putin-Versteher . Quinoa . Rachmaninow . Radarlesegerät . Radikalisierungsmaschinen. — stop
rose
kilimandscharo : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — Das Radio erzählt an diesem warmen Tag im Mai von einer alten Dame, die in Mariupol auf offener Straße von einem Scharfschützen erschossen worden sein soll. — stop
im mai in der nacht
sierra : 4.18 UTC – In der vergangenen Nacht habe ich wieder einmal das Käferwerfen geübt. Angenehme Stunden. Benny Goodman Live at Carnegie Hall. Folgende Käfer habe ich aus dem Fenster geworfen: 2 blaue Spitzmausrüsselkäfer gegen Mitternacht, 3 Marienkäfer von 1 Uhr bis 2 Uhr, 2 seidige Glanzrüssler um kurz nach 3, gegen 4 Uhr dann 1 scharlachroten Feuerkäfer. Jedweder aus dem Fenster geworfene Käfer war sofort wieder zu mir zurückgekehrt, entweder weil er ein weiteres Mal in die Luft geworfen werden wollte oder weil das Licht von meinen Zimmern her so schön warm in der Dunkelheit leuchtete. – Das Radio erzählt, die Stadt Mariupol sei nahezu verstummt. — stop
odessa
kilimandscharo : 22.52 UTC — Vor wenigen Tagen habe ich eine kleine digitale Maschine gekauft. Diese Maschine vermag die Zeit zu messen, welche ich in der einen oder anderen Aufgabe befindlich verbringe. Sie summiert sozusagen Sekunden, Minuten, Stunden heimlich für mich, damit ich, sobald Abend geworden ist, nachsehen kann, wo ich mich überall während des Tages arbeitend aufgehalten habe. Nun ist etwas Seltsames zu bemerken, dass ich nämlich Aufgaben erfinde, indem ich vertraute Aufgaben in kleinere Aufgabensegmente zerlege, sodass sie wie neue Aufgaben vor meinen Augen oder den Augen der Maschine erscheinen. Die Aufgabe der Korrespondenz beispielsweise, lässt sich in E‑Mail‑, Papierbrief- und telefonische Korrespondenz zergliedern. Ganz neu ist außerdem, dass ich der Maschine Anweisung erteilte, Lesezeiten zu notieren, wie lange Zeit ich in den Erzählungen John Updikes verbrachte. Oder der Vorgang nächtlicher Fledermausbeobachtung. Auch die Betrachtung der Maschine selbst wird von der Maschine wahrgenommen und aufgezeichnet. — Das Radio erzählt von einer jungen Frau, die seit heute in der früh in der Stadt Odessa ohne Arme leben muss, obwohl sie gestern noch über zwei Arme verfügte. — stop
ein seltsames buch
lima : 22.16 UTC — Zwei Stunden lang, es war Winter gewesen, beobachtete ich ein Buch, das kein gewöhnliches Buch gewesen war, sondern ein seltsames Buch. Ich notierte: Ich beobachte gerade eben ein seltsames Buch. Dass es sich um ein seltsames Buch handelt, ist dem Buch natürlich zunächst nicht anzusehen, weil das Buch seiner äußeren Gestalt nach, ein übliches Buch zu sein scheint. Dieses Buch hier auf meinem Tisch ist von einer tiefblauen Farbe. Sobald ich das blaue Buch nun in die Hände nehme, werde ich spüren, dass das Buch atmet, weil an seiner Rückseite durch feine Lamellen warme Luft auszutreten scheint. Das ist deshalb so, weil sich in dem Buch eine Recheneinheit befindet, ein sehr kleiner Computer, der sich mit dem Text oder mit der Geschichte, die sich in dem Buch befindet, beschäftigt. Es handelt sich bei dem Buchkörper bei genauer Betrachtung nämlich um eine Versammlung hauchdünner Bildschirme, auf welchen sich Zeichen befinden, Bildschirme, die man umblättern kann. Was zunächst zu sehen ist, gleich auf welcher Seite das Buch aufgeschlagen wird, sind eben erwähnte Buchstaben oder Ziffern, die sich rasend schnell bewegen, sodass man nicht lesen, vielmehr nur ahnen wird, was sich dort befinden könnte. Es ist dies der Moment, da der Computer des Buches jenen Text, den man mit eigenen Augen gerne sofort lesen würde, zu entschlüsseln beginnt. Ein möglicherweise aufwendiges, zeitraubendes Verfahren. Als ich das Buch kaufte, konnte mir der Händler der verschlüsselten Bücher nicht sagen, wie lange Zeit ich warten müsse, bis der Text des Buches für mich sichtbar werden würde. Es bereitete ihm Freude, ich bin mir sicher, auszusprechen, was ich längst dachte, dass die Entschlüsselung des Textes eine Stunde, einen Tag oder zweihundert Jahre dauern könnte, das sei immerhin das Prinzip, weshalb man ein Buch dieser Art erwerben wollte, dass man ein Buch besitzt, von dem man nicht sagen könne, ob es jemals lesbar werden wird. — Kurz vor Mitternacht. Das Radio erzählte gerade eben noch in Echtzeit von Menschen, die unter der Stadt Charkiw in Kellern sitzen. Eine Geige, sie war sehr fein gerade noch hörbar, spielte zur Beruhigung. Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen. — stop
morgens
tango : 8.58 UTC — Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiss, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Sie erzählte mir mit den Händen wie ich meine Schuhe zu binden vermag. Auch, dass zur Kriegszeit der Himmel im Westen leuchtete, rot am Abend und in der Nacht, das war die Stadt München in der Ferne, die brandet. — An diesem Morgen nun, es ist der 24. Februar 2022, beobachte ich eine Fotografie, die aufgenommen wurde, als ich noch schlief: Automobile, die die Stadt Kyjiw verlassen. Und in diesen Automobilen Menschen, deren Seelen brennen. — stop
im zimmer. mitternacht
echo : 0.15 — Auf der Suche nach Danill Charms Textsammlung Fälle balancierte ich zur Winterzeit vor einem Bücherregal auf einem Stuhl. Es war Samstag. Ich erhoffte mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? — Ein bemerkenswerter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestiegen war und wieder auf dem Boden stand, hielt ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch war im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen worden. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Ich entdeckte, dass G. und J. gestorben waren, während P. damals noch lebte. Nun ist auch sie gestorben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Übersetzer Peter Urban seit 8 Jahren. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen nach wie vor 7° C. Wiederum Mitternacht Langsam spaziere ich wie vor Jahren durch das nächtliche Zimmer. Und während ich so gehe, erinnerte ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südlichen Friedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich noch immer nicht erinnern, worüber wir gesprochen hatten. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied gewesen war. — stop