Aus der Wörtersammlung: einmal

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die fotografien meines vaters

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marim­ba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewe­sen war, lern­te ich bald das Geräusch der Foto­gra­fien ken­nen. Es war, zum Bei­spiel, an einem Sams­tag. Der Foto­ap­pa­rat, der das Licht zu fan­gen ver­moch­te, befand sich irgend­wo außer­halb mei­nes rol­len­den zu Hau­ses in den Hän­den mei­nes Vaters, der die Lin­se auf mich rich­te­te oder in den Him­mel hin­auf oder auf das lachen­de Gesicht mei­ner schö­nen Mut­ter, die den Kin­der­wan­gen schob und schau­kel­te. Dann, auch an jenem Sams­tag zum Bei­spiel, war bald ein wun­der­ba­res Geräusch zu hören, das ich noch immer in mei­nem Gehirn nach­bil­den kann, eine Samm­lung hel­ler tril­lern­der, auch rascheln­der Töne, ein Glei­ten von einer Sekun­de Dau­er. Und noch ein­mal, ja, er lacht, sag­te mein Vater, und dass ich tat­säch­lich lach­te, wür­de ich eini­ge Jah­re spä­ter mit eige­nen Augen sehen, vor einer Lein­wand sit­zend, auf die das Licht fiel, das mein Vater ein­ge­fan­gen hat­te. Die­ses Licht, das aus einem sur­ren­den, hecheln­den grau­en Kas­ten ström­te, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuch­ten brach­te, als wür­de es schnei­en in unse­rer klei­nen Woh­nung. Foto­gra­fie­ren war für mich zunächst ein Ton, nach­dem sich auch die Vögel in den Wäl­dern und Parks her­um­dre­hen woll­ten. — stop
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der achte tag

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echo : 14.08 UTC — Ein­mal lie­ge ich ganz still und ohne jede Bewe­gung auf dem Sofa. Ich stel­le mir vor, wie es wäre, wenn ich nun erkrankt sein wür­de, wenn das Fie­ber kom­men wür­de, wenn die Glie­der schmer­zen, mein Atem eine Ras­sel, mei­ne Nase ohne jeden Ein­druck, weder Thy­mi­an noch Zimt, noch Euka­lyp­tus, ein Nichts. Ich war kurz in der Küche, eine Rei­se, um da und dort nach mei­ner Nase zu suchen. Jetzt lie­ge ich wie­der auf dem Sofa. Ich über­le­ge, was zu tun ist. Es ist mit­ten in der Nacht gekom­men, es war plötz­lich da, und ich den­ke nach, wo ich es auf­ge­nom­men haben könn­te. Und ich den­ke noch, es ist ein War­ten jetzt, das auf mich war­tet, eine Zeit, die mei­ne Letz­te sein könn­te. Ein ers­ter Tag, die­ser Tag, der mich spü­ren lässt, dass es ange­kom­men sein könn­te, dass es wächst. Der wie­viel­te Tag ist die­ser ers­te Tag? Ist die­ser ers­te Tag hof­fent­lich schon der Sechs­te, ich füh­le mich gut für einen sechs­ten Tag? Wie wür­de ich mich füh­len, wenn es schlech­ter wer­den wird? Wie an einem ach­ten Tag? Wann wür­de ich das Tele­fon bemü­hen? Wie fühlt sich das an, wenn ich das Tele­fon bemü­hen muss. — stop

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zwei schreckliche figuren

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gink­go : 7.03 UTC — Der Mann ver­steht nicht, war­um ich ihm einen ängst­li­chen Blick schen­ke. Er steht am Ran­de der Leip­zi­ger­stra­ße und ruft: Him­bee­ren 1 Euro, Him­bee­ren 1 Euro. Er brüllt die­se For­mel Stun­de um Stun­de mit sei­nem Atem­wind unter die pas­sie­ren­de Leu­te, Pas­san­ten, und wenn man nun denkt, er könn­te ein infi­zier­ter Sän­ger sein, dann wird man bemer­ken, dass es gefähr­lich sein könn­te, hier ohne Mas­ke, ohne Bril­le über die Stra­ßen zu spa­zie­ren. Und im Café die­se net­te laut­hals tele­fo­nie­ren­de Per­son: Mein Gott, sagt sie zur Lie­sel, wenn das nur ein Weih­nach­ten nicht wird, mit einem Lock­down schon wie­der! Wenn sie ein­mal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Win­de, die alles das Unsicht­ba­re schön durch die Räu­me tra­gen, Luft­bus­se fah­ren her­um, Zep­pe­lin­wol­ken. Es ist schon selt­sam was man alles so sieht und hört neu­er­dings. — stop

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lumineszenz

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nord­pol : 20.55 UTC — Vor Jah­ren ein­mal habe ich an die­ser Stel­le bereits über Win­ter­kä­fer nach­ge­dacht, es war wohl Win­ter gewe­sen. Selt­sa­mer­wei­se ist mir damals ein ganz ande­rer Käfer ein­ge­fal­len, ein Wesen, für das ich noch immer kei­nen Namen gefun­den habe. Die­ser namen­lo­se Käfer soll­te ohne Aus­nah­me paar­wei­se erschei­nen, weich sein wie eine Schne­cke und von der Kör­per­tem­pe­ra­tur der Men­schen und genau­so groß, dass er sich in die Augen­höh­le eines Schla­fen­den ein­zu­schmie­gen ver­mag. Dort wird der noch namen­lo­se Käfer sich nicht allein als Nacht­schirm begnü­gen, statt­des­sen wird er ein wenig flie­ßen und in die­ser Wei­se in Bewe­gung, sehr ent­span­nen­de Polar­licht­spie­le von mil­der, beru­hi­gen­der Lumi­nes­zenz erzeu­gen auf den Augen­li­dern der schla­fen­den Men­schen. — Ich habe die­se klei­ne Geschich­te gera­de eben noch ein­mal erzählt, weil ich heu­te wäh­rend des Spa­zie­rens über­leg­te, ob es nicht vor­teil­haft wäre, Käfer­we­sen zu ent­wer­fen, die sich in schüt­zen­der Wei­se auf mei­nen Mund und mei­ne Nase legen wür­den, mich wär­men und die Luft zugleich fil­trie­ren hin­ein und auch hin­aus. Am spä­te­ren Abend wer­de ich eine Zeich­nung ver­su­chen. Käfer die­ser Art soll­ten viel­far­big gestal­tet sein. Nichts wei­ter. — stop
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im wald

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ulys­ses : 18.12 UTC — Ein­mal spa­zier­te ich mit Mut­ter durch einen Wald. Die alte Dame, sie trug rote Turn­schu­he, frag­te mich, ob sie denn selt­sam aus­se­hen wür­de, so wie sie ging. Und ich ant­wor­te­te: Nein, dein Gang ist viel­leicht etwas steif gewor­den, etwas lang­sa­mer, vor­sich­ti­ger, aber nicht selt­sam. Am Him­mel kreis­te ein Modell­flug­zeug mit einem Kopf­pro­pel­ler, sehr lei­se, kunst­voll über einem Hügel, von dem aus wir Vaters Segel­flug­zeu­ge in herbst­li­che Win­de häng­ten. In jenem Wald, ich erin­ne­re mich, den ich mit Mut­ter spa­zier­te, such­te ich als Jun­ge nach Ske­let­ten. Es war ein dich­ter Wald jun­ger Tan­nen. Man erzähl­te, dass die Tie­re sich dort­hin zurück­zo­gen, um in Ruhe zu ster­ben. Ver­mut­lich des­halb habe ich sehr vie­le Kno­chen gefun­den. Sie waren über Jah­re hin über den Boden gewan­dert, das waren ver­mut­lich Wild­schwei­ne gewe­sen. Ich trug zahl­rei­che Kno­chen nach Hau­se, um sie zu sor­tie­ren, mit­hil­fe eines natur­kund­li­chen Buches. In einem gro­ßen Kar­ton ver­wahr­te ich Kno­chen, die ich nicht zuord­nen konn­te. Ein­mal schüt­te­te ich die­se Kno­chen vor mich auf den Boden und setzt sie so zusam­men, dass sich ein Tier abzeich­ne­te, wel­ches über meh­re­re Schä­del ver­füg­te und zahl­rei­che Bei­ne. Das Tier war sehr lang, ein Tier, über des­sen Leben ich auf­re­gen­de Geschich­ten erzäh­len konn­te. — stop

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luftgang

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echo : 15.12 UTC — Ein­mal, abends, begin­ne ich Natha­lie Sar­rau­tes Kind­heit zum zwei­ten Male zu lesen. Das Buch beglei­tet mich seit Jah­ren. Wun­der­voll, wie sich ihre Geschich­ten Lebe­we­sen gleich von den Sei­ten lösen. Das Mäd­chen, das so lan­ge kaut, bis alles in ihrem Mund befind­li­che zu Sup­pe gewor­den ist. Wie das­sel­be Mäd­chen die Luft anhält, an einer Stra­ßen­kreu­zung war­tend, um dem Essig­ge­ruch ihres Kin­der­mäd­chens zu ent­ge­hen. Wie sie einen Tele­gra­fen­mast berührt, und glaubt zu ster­ben. Wie sie bemerkt, dass die Mut­ter sich nicht in sie hin­ein­zu­set­zen ver­moch­te. Wie sie der Mut­ter einen Löf­fel Staub reicht, um ein Geschwis­ter­chen zu bekom­men. — Auch ich habe heu­te mehr­fach die Luft ange­hal­ten, um dem Atem pas­sie­ren­der Men­schen zu ent­ge­hen. — stop
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regenhell

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whis­key : 22.14 UTC — Ein­mal, vor Jah­ren, wach­te ich auf. Es war hell im Zim­mer. Ich bemerk­te, dass es über Nacht uner­war­tet hef­tig geschneit hat­te, all das Weiß vor den Fens­tern, und ich dach­te für einen Moment, ich soll­te das Bild kor­ri­gie­ren. Und ges­tern nun eine ähn­li­che Geschich­te, es hat­te gereg­net, die Bäu­me vor mei­nem Fens­ter tropf­ten, ein Knis­tern oder lei­ses Rau­schen. — stop

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im regenzimmer

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marim­ba : 0.28 UTC — Seit 1911 Tagen bereits ver­su­che ich von einem Zim­mer zu träu­men, in dem es immer­fort reg­net. Ich mache das so, dass ich in den Minu­ten, da ich einzu­schlafen wün­sche, über­lege, wie es wäre, wenn in dem Zim­mer, in dem ich mich gera­de befin­de, Regen fal­len wür­de. Die­se Metho­de des Regen­den­kens ist lei­der bis­lang nicht sehr erfolg­reich gewe­sen. Immer wie­der schla­fe ich ein, ohne je vom Regen­zim­mer zu träu­men. Ein­mal, als ich erwach­te, hör­te ich wirk­li­chen Regen drau­ßen in den nächt­li­chen Bäu­men. Ich ging dann spa­zie­ren und dach­te dar­über nach, wie sich unse­re Menschen­welt verän­dern wür­de, wenn wir von einem Tag zum ande­ren Tag über arm­lan­ge Zun­gen der Geckos ver­füg­ten? In wel­cher Form kämen sie in einer voll besetz­ten Stra­ßen­bahn zum Ein­satz? Und wie bei der Lie­be? Und wie im Streit? Und was wür­den die­se Zun­gen wohl im Schlaf unter­nehmen? Was wäre, wenn wir uns nie wie­der berüh­ren dürf­ten, kein Mensch einen wei­te­ren Mensch, ohne zugrun­de zu gehen? – stop

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kalkutta

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echo : 0.25 UTC — Ein­mal woll­te ich nach Kal­kut­ta rei­sen. Ich dach­te, das ist jetzt eine beschlos­se­ne Sache. Ich mach­te mich unver­züg­lich an die Vor­be­rei­tung mei­ner Rei­se: Kof­fer, Regen­schirm, Aus­weis, Apo­the­ke, Imp­fun­gen, Notiz­bü­cher, Schreib­ma­schi­ne, Foto­ap­pa­ra­te, Flug hin und zurück, Hotel­zim­mer, Stadt­plan, Lite­ra­tur, Son­nen­hut. Weni­ge Tage spä­ter erreich­te mich ein ers­tes Paket des Doku­men­tar­films Phan­tom Indi­en von Lou­is Mal­le. Ich las, der Film habe ins­ge­samt eine Spiel­zeit von 6 Stun­den und 3 Minu­ten. Solan­ge Zeit, stell­te ich mir vor, könn­te eine Fahrt quer durch Kal­kut­ta mit dem Taxi dau­ern. Es ist nun über­haupt die Fra­ge, wie lan­ge Zeit soll­te ich mich mit der Vor­be­rei­tung mei­ner Rei­se nach Kal­kut­ta beschäf­ti­gen? — Lan­ge Zeit in der ver­gan­ge­nen Nacht das nord­ame­ri­ka­ni­sche Fern­se­hen beob­ach­tet. Wie man sich in den Wor­ten, wenn man sie spürt, fin­den kann, kann man sich im Rau­schen rasen­der Wor­te ver­lie­ren. — stop
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auf stelzen

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echo : 0.08 UTC — Ein­mal war ein merk­wür­di­ger Tag gewe­sen, die hal­be Stadt stand im Was­ser wie auf Stel­zen. Man hör­te das Was­ser nicht, aber es war anwe­send, in den Kel­lern, in den Stim­men in den Tele­fo­nen, den Unter­füh­run­gen, den tie­fer gele­ge­nen Stra­ßen. Spät, hoch auf einem Stelz­haus, sag­te Mar­gue­ri­te Duras, sie führ­te ein Gespräch mit dem fran­zö­si­schen Regis­seur Benoît Jac­quot auf einem Fern­seh­bild­schirm, berüh­ren­de Sät­ze über das wil­de Schrei­ben, über die Ver­bin­dung von Zwei­fel und Ein­sam­keit. Ein Schrift­stel­ler sei stumm. Unmög­lich, über ein Buch zu spre­chen, das gera­de im Ent­ste­hen begrif­fen ist. Ein Buch sei Nacht. — Es ist nun Jah­re spä­ter. Ich fuhr im Zug. Ich schau­te in mein Notiz­buch, las vom Was­ser und von den Stel­zen. Da stürmt ein Mann in den Zug, setzt sich unmit­tel­bar neben mich, schnauft. Eine jun­ge Frau steht auf und läuft davon, ein wei­te­rer Mann steht auf und läuft davon. Der Mann, der sich neben mich set­ze, schnauft. Ich bemer­ke, er trägt kei­ne Mas­ke vor Nase und Mund. Also ste­he ich auf und lau­fe davon. Es war ein merk­wür­di­ger Tag gewe­sen. — stop
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