ulysses : 15.02 UTC — Eine Fotografie, die ich vor zehn Jahren vergeblich wiederzufinden suchte, zeigt die Raumstation MIR in großer Höhe über der Erde schwebend. Ich vermag das farbige Bild noch immer zu erinnern, vielleicht deshalb, weil mich die Aufnahme berührte. Ein Bullauge, dort das Gesicht einer Frau, deren Namen ich vergessen habe, ein ernstes Gesicht, Ahnung, Schatten, Züge einer russischen Kosmonautin, die Monate einsam auf der MIR-Station lebte. Sie folgt der äußerst behutsamen Annäherung eines Raumschiffes der NASA, in dem sich Menschen befinden, die mittels Funk vermutlich bereits Kontakt aufgenommen hatten: Wir sehen Dich! — Da war das tiefe Schwarz des Weltalls im Hintergrund, ein absolut tödlich wirkender Raum, der sich zwischen den beiden Raumkörpern erstreckte. Ich erinnerte mich an diese Fotografie, an meine Suche, weil ich vor wenigen Tagen eine weitere Ikone menschlicher Einsamkeit entdeckte. — stop
Aus der Wörtersammlung: frau
missing flamingos
sierra : 22.58 — Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle, indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als hätten sie Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun war Stille, kein Traum wurde erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahingleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
kreisgang
lima : 2.52 — In Genf, nahe einer Straßenkreuzung von der Rue de Rhone zur Rue d’Italie, waren seltsame Dinge zu bemerken. Männer und Frauen nämlich, die sich kreisend oder auf und ab über das Pflaster bewegten, während sie das Grünlicht der Ampeln erwarteten. Bei genauerer Betrachtung mochte man meinen, sie könnten vielleicht nicht in der Lage sein, stillzustehen. Sie trugen Damenkostüme, Herrenanzüge, feine Schuhe, waren vermutlich gerade aus dem Büro gekommen, befanden sich auf dem Weg vielleicht nach Hause, zur Busstation nach Ferney oder ins Kino, ins Theater, zum Jazz. Die Sonne schien, erste warme Stunden. Aber, so dachte ich, auch an einem eiskalten Tag im Winter würden sie sich genau so bewegt haben, in Kreisen oder auf und ab. Eine neue Zeit ist angebrochen. Man nimmt jetzt nur noch selten den Aufzug, man nimmt die Treppe, stets der Blick hin zum Handgelenk, zur Apparatur, die Pulse, Temperaturen, und auch den Schlaf auszumessen vermag. Und noch einen Kreis gleich hinterher und über die Straße, wie viele Schritte, wie viele Schritte heute, wie viele Schritte mehr als gestern, wie weit bin ich gekommen in diesem Monat, vielleicht bis nach Chambéry, vor dem Sommer noch könnte ich Montpellier erreichen, im Winter Valencia, am Ende des kommenden Jahres werde ich in Essaouira sein. – Einmal war 2 Uhr und 44 Minuten in der Nacht gewesen. Ich beobachtete meinen Kaktus, wie er blühte. Wenn mein Kaktus blüht, hält er seine Blüte auch bei Nacht geöffnet, als ob er ahnte oder wüsste, dass in meinen Zimmern Nachtbienen und Nachtwinde wohnen. — stop
mundsegel
alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau, wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf dem Boden ab und flüchtete. — Das ist doch seltsam, dachte ich heute bald sechs Jahre später. Dieser Text wurde bereits am 14. Oktober 2014 von mir selbst notiert. Ich hatte ihn verlegt. Das papierene Segel erinnerte mich. — stop
ein film
nordpol : 22.07 UTC — Wie ein Gespenst in einem Nachthemd kletterte eine Frau in der Stadt Wuhan von Balkon zu Balkon. Es ist irgendwann in der Nacht. Es ist vielleicht der 15. Stock. Über der kletternden Frau weitere Stockwerke. Kaum Licht, etwas Mondlicht. Da und dort Lampen in den Fenstern. Irgendjemand in einem Haus jenseits der Tiefe filmt die kletternde Frau, ein Bild von Verzweiflung. Ich habe diesen Film auf einem Handybildschirm aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen. Menschen, die im Zug neben mir saßen, betrachteten die Aufnahme. Sie waren vermutlich auf dem Weg zum Flughafen. Atem blähte ihren Mundschutz wie ein Segel. — stop
von ohren
alpha : 18.55 UTC — Ich glaubte lange Zeit, ein Mensch, der über sechzehn Ohrenpaare verfüge, müsse eigentlich über einen guten Gehörsinn verfügen. Nun ist das aber so, dass jene Ohren, die auf den Oberarmen Jossi Kaukinens zu bewundern sind, über keinerlei Gehörgang verfügen, auch nicht über Trommelfelle oder Gehörknöchelchen oder Ohrtrompeten. Diese Ohren, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, in einem Sommer, da ich nach Finnland reiste, um Herrn Kaukinen und seine Ohren zu besuchen, sind lediglich die Muscheln der Ohren, Schallkörper, die Kaukinen zu züchten vermag, weil er weiß, wie das geht. Er lebt davon, dass er frische Ohren gekühlt zu liefern in der Lage ist. Kaum ist ein Ohr auf Reisen gegangen, — sie fliegen meist mit einem Hubschrauber davon, wächst schon ein nächstes Ohr heran, eine Knospe bildet sich binnen weniger Stunden an genau jener Stelle, da zuvor ein ausgewachsenes Ohr entfernt worden ist. Diese Knospe ist zunächst nur mittels Mikroskopien sichtbar, aber schon drei Tage später kann man erahnen, dass ein weiteres Ohr heranwachsen wird, das gepflegt wird und vor dem Licht der Sonne beschützt. Herr Kaukinen schläft im Sitzen. Er sitzt also in seinem Bett, von Gurten in Position gehalten und schläft und sieht sehr seltsam aus im Zwielicht, als würden Blumen von Fleisch sich auf seinen Schultern niedergelassen haben. Klingelt der Wecker sehr früh, wird es ernst. Dann nähert sich Kaukinens Frau mit etwas Watte und Werkzeug: Mein Liebling, heute ist wieder solch ein Tag! — stop
erstaunlich
marimba : 16.12 UTC — Hinter dem Tresen eines Backwarenladens stand eine junge Frau. Sie beobachtete, wie ich mein Portemonnaie durchsuchte. Lassen Sie sich Zeit, sagte sie. Sie war mir bereits früher einmal angenehm aufgefallen, eine sehr geduldige und immer freundliche Person. Ich sagte: Ich werde doch langsam ein alter Mann. Ja, sagte sie, ja, ja, lassen Sie sich ruhig Zeit, wir können kleines Wechselgeld gut gebrauchen. Ich durchsuchte das Täschchen, das für Münzen eingerichtet war, bald aber drehte ich meinen Geldbeutel einfach auf den Kopf und ließ eine Handvoll Münzen auf einen Teller auf dem Tresen fallen. Es waren sicher 20 Münzen gewesen, die vor unseren Augen lagen, 1 Cent, 2 Cent auch 10 Centmünzen. Kaum 1 Sekunde war vergangen, die junge Frau hatte nur einen knappen Blick auf den Teller vor uns geworfen, da sagt sie: Das sind 40 Cent zu viel. Sie zählte das Geld in einer rasenden Geschwindigkeit mit zwei Fingern durch, und sie lachte, vermutlich weil sie meinen staunenden Blick bemerkte. Wie machen sie das, fragte ich. Die junge Frau antwortete: Es geht nicht langsamer. Nein, sagte ich, ich meine, wie haben Sie mit nur einem Blick den Wert des Geldes auf dem Teller festgestellt? Das ist Übung, sagte sie, ich kann das auch mit Perlen oder mit Linsen, aber das, was ich als Summe erkennen möchte, muss auf einem kleinen Teller wie diesem Teller hier liegen. Erstaunlich, sagte ich. Sie sind nicht alt, antwortete die junge Frau. Doch, doch, sagte ich, ich halte mich beim Treppensteigen am Geländer fest, das ist neu, das kam einfach so von einem Tag auf den anderen Tag. Erstaunlich, sagte die junge Frau, das wird schon wieder. — stop
ein schwebender löffel
nordpol : 22.01 UTC — Am Telefon meldete sich ein Mann, der mir eine traurige Geschichte erzählte. Er sagte: Meine Frau ist seltsam geworden, sie wurde soeben 84 Jahre alt, vielleicht ist sie deshalb seltsam geworden. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mitternacht, und sie hat aufgehört zu kochen, deshalb koche ich jetzt für uns beide, obwohl ich nie gekocht habe. Meine Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manchmal sagt sie, dass ich hervorragend kochen würde. Der Mann am Telefon lachte. Und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren einmal einen Ausflug zu einer Tante machte, die damals seit bereits über zehn Jahren in einem Heim lebte, weil sie sehr alt war und außerdem nicht mehr denken konnte. Es war Frühling und der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit weiteren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. Sie schliefen einerseits, andere betrachteten mich interessiert, so wie man Vögel betrachtet oder Blumen. Es ist schon seltsam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzählen in der Hoffnung, die Geschichte würde jenseits der Stille vielleicht doch noch Gehör finden. Ich erzählte meiner Tante von einer Wanderung, die ich unlängst in den Bergen unternommen hatte, und dass ich auf einer Bank in eintausend Meter Höhe ein Telefonbuch der Stadt Chicago gefunden habe, das noch lesbar gewesen war und wie ich den Eindruck hatte, dass ich aus den Wäldern heraus beobachtet würde. Ich erzählte von Leberblümchen und vom glasklaren Wasser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knisterte. Dohlen waren in der Luft, wundervolle Wolkenmalerei am Himmel, Salamander schaukelten über den schmalen Fußweg, der aufwärts führte. So erzählte ich, und während ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schlafen oder zuzuhören, wie immer, wenn ich sie besuche. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen, wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegenüber wartete eine andere alte Frau, sie trug weißes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreibmaschinenpapier. Vor ihr stand ein Teller mit Erbsen. Die alte Frau hielt einen Löffel in der Hand. Dieser Löffel schwebte während der langen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zentimeter hoch in der Luft über ihrem Teller. In dieser Haltung schlief die alte Frau oder lauschte. — stop
zuggeschichte
nordpol : 15.55 UTC — Ein junger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unterhielt, erzählte, er lade sich im Zug reisend sehr gerne Romane und Erzählungen auf sein Kindlelesegerät. Er habe bereits eine Sammlung mehrerer Tausend Bücher, deren Lektüre im Grunde jederzeit möglich wäre, weil sie in digitaler Form existieren. Er lese je so weit, wie es die Leseprobe ermögliche. In dieser Weise habe er schon sehr viel Literatur zu sich genommen, auch einführende Vorworte, die meistens vollständig ausgeliefert werden. Oder Kurzgeschichten, eine oder zwei Kurzgeschichten seien beinahe immer vollständig in den Proben enthalten. Das ist schon irgendwie eine Sucht, sagte er. Er habe, seit er lesen lernte, stundenlang in Bücher geblättert, da und dort einen Satz oder eine vollständige Buchseite gelesen, ein komplettes Buch habe er niemals studiert. — stop
vom schnee
echo : 22.08 UTC — Vor zwei Jahren notierte ich eine Geschichte von zwei alten Frauen, die seit Monaten aufgehört haben zu sein. Die Geschichte aber, die ich erzählte, existiert weiter fort. Sie geht so: Vor dem Rollstuhl, in dem die alte Dame hockte, kniete ein Mädchen im Alter von 6 Jahren. Die alte Dame erzählte dem Mädchen eine Geschichte. So leise war die Stimme der alten Dame geworden, dass sie kaum noch zu hören war, manche der leisen Wörter waren nur in Gedanken zu vernehmen, waren Vermutung. Je mehr der Vermutungen sich in den laut ausgesprochenen Wörtern der Erwachsenen, die links und rechts des Rollstuhles stehend, in gebückter Haltung lauschten, aneinander reihten, desto strenger wurde der Blick der alten Dame, sie schien unzufrieden, vielleicht sogar verzweifelt zu sein. Plötzlich sagte das Mädchen: Ihr hört nicht richtig zu! Die Tante sagt, dass sie an Weihnachten immer den Gottesdienst in der Kirche St. Paul besuchte. Sie sagt überhaupt gar nichts über das Wetter morgen. Unverzüglich begann die alte Dame zu lächeln. Sie winkte das Mädchen zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ja, sagte das Mädchen, das stimmt, ich kann gut hören, ich glaube, ich kann auch Fledermäuse hören, wenn sie bei uns im Garten herumfliegen. Die alte Dame flüsterte etwas Weiteres in das Ohr des Mädchens, sofort stand das Mädchen auf und schob den Rollstuhl der alten Dame auf den Flur hinaus. Im Flur vor einem Fenster hockte eine weitere alte Dame in einem Rollstuhl, sie schien zu schlafen. Schnee fiel vor dem Fenster, dichte, große und runde Flocken. Bald saßen nun zwei alte Damen Seite an Seite in ihren Stühlen. Und das Mädchen ging vor den Damen in die Hocke. Sie weckte die schlafende alte Dame und sagte mit ihrer hellen Stimme: Du, du wolltest heute Morgen meiner Tante etwas erzählen. Ich bin jetzt ganz Ohr! — stop